Die Stadt - Roman
schon zu Lebzeiten glaubte, Gut und Böse wiegen zu müssen. Das alles geschah in der Welt des Lebens. Dies ist das Jenseits. Vertrau jemandem, der die Apfelkerne der Weisheit geraucht und gegessen hat, mein Junge: Du bist nicht mehr der, der du im Leben warst.«
Als der Alte schwieg, glaubte Benjamin für einen Moment, neben dem Summen der Maschine noch ein anderes Geräusch zu hören, ein ledriges Knarren. Der Geruch von Ammoniak stieg ihm in die Nase, scharf und beißend, aber als er schnupperte, roch er nichts mehr.
»Kann uns das Monster hier erreichen?«, fragte Louise und sah sich um.
»Du meinst den dunklen Burschen«, sagte Laurentius. »Nein, dieser Ort bleibt ihm verwehrt. Aber dort draußen sucht er noch immer nach Benjamin. Er möchte in ihn zurückkriechen, und so interessant es wäre zu beobachten, wie
ein fünf Meter großes Geschöpf versucht in deinen Kopf zu krabbeln, mein Junge: Wir sollten es nicht darauf ankommen lassen. Bisher hat ihn die Maschine daran gehindert, sich wieder mit dir zu vereinen, aber wenn die Pendel der Kohärenz zur Ruhe kommen, könnte sich das Blatt wenden.«
»Also?«, hakte Louise nach.
»Also muss er die Stadt verlassen. Endgültig. Für immer. Am besten mit dir zusammen. Die Entscheidung darüber liegt natürlich bei dir.«
»Ich verstehe.« Louise sah auf die Flasche hinab. »Na schön«, sagte sie und stärkte sich mit einem weiteren Schluck Medizin. »Na schön.«
»Na schön was, Teuerste?«
Louise ergriff Benjamins Hand. »Ich schätze, mir bleibt gar nichts anderes übrig, als Ben zu begleiten«, sagte sie, aber sie lächelte bei diesen Worten.
Epilog
Sie standen am Ufer des Sees, den Benjamin als glitzernde Fläche von der Terrasse des Penthouses aus gesehen hatte, durch Kowalskis Teleskop. Das gerade Band daneben war eine mehrspurige Straße, leer zwar, aber ohne einen einzigen Riss im glatten Asphalt. Einige Kilometer entfernt lag der Nebel wie ein grauweißer Mantel auf der Landschaft, und dahinter ragten die sieben Hügel der Stadt auf.
»Von hier an müsst ihr allein zurechtkommen«, sagte Laurentius. »Folgt dem Verlauf der Straße. Sie bringt euch zur nächsten Stadt.«
Benjamin blickte über das lange Asphaltband bis zum dunstigen Horizont und blinzelte im Licht der aufgehenden Sonne. »Wie weit ist es?«
»Nicht so weit, wie du denkst. Ihr müsst nur einmal übernachten. Ich schätze, morgen Nachmittag erreicht ihr euer Ziel.«
»Wir haben nichts zu essen und zu trinken«, sagte Louise und schüttelte die leere Flasche Medizin.
Laurentius hob die Hände, und plötzlich hielten sie zwei Rucksäcke. »Für euch. Genug Proviant für einen mehrtägigen Marsch, wenn ihr wollt. Ich habe ein paar Äpfel dazugelegt.«
Als er sich abwandte, fragte Benjamin: »Sehen wir uns wieder, irgendwann?«
»Wer weiß?«, erwiderte Laurentius und zuckte die Schultern. »Ich muss jetzt gehen. Die Maschine wartet auf mich.«
Er winkte und ging los. Nach einigen Schritten verlor er an Substanz und wurde durchsichtig, verschwand dann ganz.
Benjamin schaute erneut über die Straße und schulterte seinen Rucksack. Louise trat neben ihn. »Ich nehme an, dies ist ein Anfang.«
»Es ist ein Ende und ein Anfang«, erwiderte Louise. Ihre Stimme klang anders. »Wir lassen alles hinter uns zurück, Ben. Wir haben einen Schlussstrich gezogen und wissen Bescheid. Wir können ganz bewusst mit etwas Neuem beginnen.«
»Ohne zu vergessen, was wir gewesen sind?«
Louise deutete nach vorn. »Eine ganz neue Welt liegt vor uns, Ben. Vielleicht können wir im Tod sein, was wir im Leben nicht sein konnten. Vielleicht ist das Teil der Wahrheit, von der Laurentius gesprochen hat.«
»Du klingst … zuversichtlich. Optimistisch. Nicht wie die Traurige.«
»Ich bin Louise, nicht Françoise.«
Wind kam auf, wehte kühl von der hinter ihnen liegenden Stadt und schien sie aufzufordern, mit der Reise zu beginnen.
»Und ich bin nicht mehr Benjamin, sondern Ben.« Er nahm ihre Hand, und sie machten sich auf, die Städte zu erkunden.
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