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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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eine Schiefertafel scharren.
    »Die Kreaturen sind da«, wisperte Louise. Sie rückte etwas näher an Benjamin heran, so nahe, dass er die Wärme ihres Körpers fühlte. Wir sind tot, dachte er. Und doch sind unsere Körper warm.
    Die Geräusche wiederholten sich nicht. Stille breitete sich aus.
    »Ich habe nur dich auf der Straße gefunden«, hauchte Louise nach einigen Minuten. »Nur dich, hörst du? Es war sonst niemand da. Du bist allein zu uns gekommen.« Die Hand
wich von Benjamins Brust. »Schlaf jetzt, Ben. Es dauert eine Weile, bis sich der Nebel verzieht.«
    Ich werde dich suchen, Kattrin, dachte Benjamin, und dann schlief er, zum ersten Mal seit seinem Tod.

Die Stadt

3
    Das Wesen lag mitten auf der Straße im strömenden Regen. Sie beobachteten es schon seit einer Minute, aber es rührte sich nicht.
    »Was ist das?«, fragte Benjamin.
    »Eine der Kreaturen«, erwiderte Louise. »Vermutlich tot.« Sie sah nach rechts und links über die Straße, zog sich dann die Kapuze ihres Regencapes tiefer in die Stirn und verließ den Schutz des kleinen Vordachs. Benjamin folgte ihr; sein Kopf war von einer kleinen, halb durchsichtigen Plastikplane geschützt, die aus den dürftigen Vorräten in Louises Notfall-quartier stammte. Der Regen trommelte auf den Kunststoff, als wollte er ihn zerreißen.
    Das Geschöpf war so groß wie ein Bernhardiner, aber gewiss kein Hund. Die Schnauze erinnerte Benjamin an die eines Bären, war aber länger und breiter, mit Dutzenden von langen, spitzen Zähnen. Rote Reptilienaugen starrten ins Leere. Dichtes schwarzes Fell bedeckte Kopf und Rücken, nass vom Regen, doch an Brust und Bauch glänzten gelbbraune Schuppen, wie die einer Schlange. Die hinteren Beinen, mit kräftigen Sprungmuskeln ausgestattet, waren zur Seite gestreckt, die Krallen der vorderen Gliedmaßen hatten
sich in einen Riss im Asphalt gebohrt. Dicht über den beiden reglosen Augen des Wesens zeigte sich ein Loch in der Stirn, aus dem dunkle Flüssigkeit rann. Der Regen wusch sie fort.
    »Eine Mischung aus Wolf, Bär und Schlange?«, fragte Benjamin verwundert.
    Louise hob den Kopf und sah erneut in beide Richtungen die Straße entlang. Weit und breit regte sich nichts. »Im Nebel gibt es noch weitaus seltsamere Kreaturen. Dies ist ein Springer, und eine Kugel hat ihn getötet. Siehst du hier?« Sie zeigte aufs Loch in der Stirn des Geschöpfs. »Das ist eine Schusswunde. Ich glaube kaum, dass eine von Hannibals Patrouillen hier unterwegs gewesen ist. Also kommen nur Streuner infrage. Komm, Ben. Lass uns von hier abhauen.«
    Sie lief durch den Regen zur anderen Straßenseite, und Benjamin folgte ihr erneut. Dicht an der Häuserfront setzten sie den Weg in Richtung Innenstadt fort.
    »Wer sind die Streuner?«, fragte Benjamin.
    »Miese Typen«, sagte Louise. »Manche von ihnen sind schon ziemlich lange hier. Länger als ich.«
    »Seit wann bist du …«
    »Seit wann ich tot bin?« Louise blieb stehen, als sie eine Kreuzung erreichten, und holte unter ihrem Cape eine handgezeichnete Karte hervor, die in einer knittrigen Klarsichthülle steckte. Der Regen prasselte darauf. »Seit siebzehn Jahren, glaube ich. Es ist nicht ganz einfach, den Überblick zu behalten. Die Jahreszeiten in den einzelnen Stadtteilen sind unterschiedlich, Tag und Nacht nicht immer gleich lang. Aber ich glaube, es müssten siebzehn Jahre sein.« Sie deutete nach links, in eine schmalere Straße. »Dort entlang. Es ist ein kleiner Umweg, aber dadurch weichen wir dem Loch aus.«
    »Bist du als Kind hierhergekommen?«, fragte Benjamin, als sie die Kreuzung überquerten. Er sah noch einmal zurück zu der Kreatur, die mehrere Hundert Meter hinter ihnen auf der Straße lag, getötet von einer Kugel.
    »Nein.« Louise zögerte kurz. »Als ich hierherkam, war ich neunundzwanzig. Also wäre ich jetzt eigentlich sechsundvierzig.«
    »Aber …«
    »Ich sehe nicht so alt aus, meinst du?« Louise lächelte unter ihrer Kapuze, aber es war ein schiefes Lächeln. »Tote altern nicht, Ben. Niemand von uns wird älter. Die Alten bleiben alt, die Jungen jung. Einige Mitglieder der Gemeinschaft glauben, dass wir im Paradies gelandet sind. Ich schätze, ihre Vorstellung vom Garten Eden ist der Supermarkt.«
    »Wenn dies das Paradies sein soll … Ich habe es mir anders vorgestellt.«
    »Oh, im Paradies sind wir hier gewiss nicht, meiner bescheidenen Meinung nach.« Es klang ein wenig bitter. »Aber vielleicht auch nicht in der Hölle. Obwohl ich mir da nicht ganz

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