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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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    B runetti stand am Fenster und flirtete mit dem Frühling. Er war da! Gleich drüben, am anderen Ufer des Kanals, zeigte er sich in den frischen, jungen Trieben, die dort aus der Erde spitzten. In all den Jahren hatte Brunetti nie jemanden in dem Garten arbeiten sehen, und doch mußte während der letzten Tage irgendwer den Boden aufgelockert haben, auch wenn ihm das erst jetzt auffiel. Zwischen den Grashalmen schimmerten zartweiße Blümchen, und die unerschrockenen kleinen, die sich so dicht an den Boden schmiegten und deren Namen er sich nie merken konnte - die mit den gelben und rosafarbenen Blüten -, brachen aus dem frisch gewendeten Erdreich hervor.
    Er stieß die Fensterflügel auf und ließ frische Luft in sein überheiztes Büro strömen. Sie duftete nach neuem Wachstum oder steigenden Säften oder was immer es war, das die sprichwörtlichen Frühlingsgefühle wachrief und jenes Urverlangen nach Glück. Und weil dieses Etwas auch die Würmer hervorgelockt hatte, waren anscheinend sogar die Vögel, die so eifrig drüben im Garten pickten, in Hochstimmung. Zwei von ihnen zankten sich um einen Leckerbissen, dann flog einer davon, und Brunetti sah ihm nach, bis er links hinter der Kirche verschwand.
    »Verzeihung«, hörte er jemanden hinter sich sagen und setzte eine ernste Miene auf, bevor er sich umdrehte. Vor ihm stand Vianello in Uniform, er blinzelte nervös und wirkte viel zu streng für einen so schönen Tag. Angesichts seiner dienstlich-steifen Haltung war Brunetti versucht, ihn mit Rang und Namen anzusprechen, obwohl sie sich seit Vianellos Beförderung zum Inspektor doch immer häufiger duzten. Unschlüssig vermied er die Anrede fürs erste und fragte höflich: »Ja, was gibt's denn?«
    »Hättest du wohl einen Moment Zeit?«
    Wenn Vianello so umstandslos das vertrauliche tu benutzte und Brunetti auch nicht mit »Commissario« ansprach, war er wohl doch nicht dienstlich hier.
    Um die Situation zu entspannen, sagte Brunetti: »Ich habe mir gerade die Blumen dort drüben angesehen« - er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Garten - »und mich gefragt, was wir an einem Tag wie heute im Büro verloren haben.«
    Da lächelte Vianello endlich. »Der erste Tag, an dem man den Frühling spürt. Da habe ich früher immer die Schule geschwänzt.«
    »Ich auch«, schwindelte Brunetti. »Und womit hast du dir die Zeit vertrieben?«
    Vianello setzte sich auf den rechten der beiden Besucherstühle, seinen angestammten Platz. »Mein älterer Bruder hat damals den Rialto beliefert, und statt in die Schule bin ich zu ihm auf den Markt, und wir haben den ganzen Vormittag Obst- und Gemüsekisten geschleppt. Um die Zeit, wenn normalerweise Unterrichtsschluß war, bin ich dann heim zum Mittagessen.« Er schmunzelte und lachte schließlich laut heraus. »Meine Mutter ist mir immer auf die Schliche gekommen. Wie, weiß ich nicht, aber sie fragte mich jedesmal, was am Rialto los gewesen sei und warum ich ihr keine Artischocken mitgebracht hätte.« Kopfschüttelnd hing Vianello seinen Erinnerungen nach. »Und den Kindern ergeht es heute mit Nadia nicht anders: als ob sie ihre Gedanken lesen könnte und einfach weiß, wann sie den Unterricht geschwänzt oder etwas ausgefressen haben.« Er sah Brunetti an. »Kannst du dir erklären, wie sie das machen?«
    »Wer? Mütter?«
    »Ja.«
    »Du hast es eben selbst gesagt, Lorenzo. Indem sie Gedanken lesen.« Und da die Atmosphäre nun hinreichend entspannt schien, fragte Brunetti ganz direkt: »Also, was führt dich zu mir?«
    Schlagartig kehrte Vianellos anfängliche Nervosität zurück. Er stellte die übereinandergeschlagenen Beine nebeneinander, preßte die Knie zusammen und setzte sich kerzengerade hin. »Es handelt sich um einen Freund«, sagte er. »Er hat Probleme.«
    »Womit?«
    »Mit uns.«
    »Der Polizei?«
    Vianello nickte.
    »Hier? In Venedig?«
    Vianello schüttelte den Kopf. »Nein, in Mestre.
    Das heißt, eigentlich in Mogliano, aber sie wurden nach Mestre gebracht.«
    »Wer, sie?«
    »Na, die Leute, die man festgenommen hat.«
    »Was denn für Leute?«
    »Die vor der Fabrik.«
    »Meinst du das Farbenwerk?« fragte Brunetti, der sich an einen Artikel in der heutigen Morgenzeitung erinnerte.
    »Ja.«
    Der Gazzettino hatte auf der ersten Seite seines Innenteils groß über die Festnahme von sechs Personen berichtet, die am Vortag an einer Anti-Globalisierungsdemo vor einem Farbenwerk in Mogliano Veneto teilgenommen hatten. Die Fabrik war mehrmals wegen

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