Die Stasi Lebt
bis dahin 20 000 Geheimdienstler. Jetzt hatten Demonstranten das Herz der Finsternis besetzt. Transparente mit der Kampfansage »Stasi – Raus!« flatterten in der Kälte.
Heute weiß schon niemand mehr, wie die Angst roch bei der Eroberung der Zitadelle. Nur aus den Papieren steigt sie weiter auf, die Angst vor dem »Großen Bruder«, die Angst vor der eigenen Courage bei der Zerschlagung der DDR-Staatssicherheit. Mit schlecht kopierten Grundrissen in der Hand tasteten sich die Bürgerrechtler in die verzweigte Welt des Imperiums, drangen zur holzgetäfelten Büroflucht des allmächtigen Mielke vor (Lenins Totenmaske lag auf dem Schreibtisch), um am Ende des Abenteuers 178 laufende Kilometer Stasi-Akten als Erbmasse in die Wiedervereinigung einzubringen. Der politische Wille der Demokratiebewegung stoppte das von den Dunkelmännern mit Hochdruck begonnene Schreddern der Verschlusssachen.
Das Schlüsselwort dabei hieß »offene Aufarbeitung«. Ein von den Verfassern des »Stasi-Unterlagen-Gesetzes« bewusst gewählter Therapiebegriff, Reflex auf die Erfahrung der Unterdrückung. War schon die Entmachtung der 91 000 Köpfe starkenSchattenarmee durch »das Volk« ein unglaublicher Kraftakt, grenzte es an ein Wunder, mit der sogenannten Gauck-Behörde eine Institution für den Umgang mit dem heißesten DDR-Stoffzu schaffen. Ohne ihre Hilfe wären die hier versammelten Innenansichten einer Diktatur nicht zustande gekommen.
Sofern die unterschiedlichen Texte eine Botschaft haben, dann die von einem Paralleluniversum, dessen labyrinthische Verflechtungen der gewöhnliche DDR-Bürger vermutete, der gewöhnliche BRD-Bürger aber überhaupt nicht ahnte. Dabei hatte ich nie den Ehrgeiz, eine Anatomie der Staatssicherheit vorzulegen, die Anspruch auf ein Gesamtporträt erhebt. Es wäre schon viel gewonnen, typische Aspekte des totalitären Herrschaftsapparates zu beschreiben und ihre Muster aufzudecken. Gelänge es, mit diesen Artikeln, (die eine gewisse Fassungslosigkeit nicht verhehlen), Einblicke in die schwarze Kammer des Verdrängten zu geben, hätte der Autor viel erreicht.
Journalisten beschleicht oft das Gefühl, das Publikum höre nicht richtig zu. In diesem Fall sorgten nicht wenige der hier abgedruckten Berichte für Schlagzeilen. Das gilt insbesondere für meine Recherchen über Stasi-Lauschangriffe auf West-Politiker. Nicht zuletzt Alt-Kanzler Helmut Kohl drängte danach darauf, das Stasi-Unterlagengesetz zu verschärfen. Die stellenweise hochnotpeinlichen Abhörprotokolle sind seitdem für Journalisten tabu.
Die meisten meiner Gänsehaut-Begegnungen mit Stasi-Offizieren fanden in beklemmender Stimmung statt. Deshalb muss ich alle enttäuschen, die Reporter um ihren Job beneiden. Man wünscht seinem ärgsten Feind nicht, sonntagmorgens bei einem Ex-General klingeln zu müssen, um ihn nach einem Mann zu fragen, der von der Stasi in eine Falle gelockt und in Dresden geköpft wurde. Die Mächtigen von gestern saßen an Tischen mitHäkeldeckchen, entpuppten sich als unbelehrbar, unter nahmen nicht den geringsten Versuch, einnehmend zu wirken. Keiner der Lamettaträger konnte mir erklären, welche Art Gesellschaft die Verbindung von Allmachtsphantasien und Karteikarten hervorbringen, wohin ihre wahnhaften Träume führen sollten – außer in den totalen Überwachungsstaat. Viele hochrangige Dienstgrade waren mit dem Fall der Mauer tief gestürzt. Mancher, der in meinen Rückblenden noch als Stasi-Stratege agiert, hatte die Angst des Deklassierten im Blick und musste sich als Pförtner oder Nachtschaffner verdingen.
Wenn ich gefragt werde, welche Reportage mir die wichtigste war, nenne ich die Geschichte des Stasi-Verdachts in der Schauspielerehe von Jenny Gröllmann und Ulrich Mühe. Das Ausmaß ihrer antiken Tragödie kann niemanden unberührt lassen. Wenn ich sagen soll, warum ich diese und jene Geschichte erzähle, kann ich nur wiederholen: Damit sie nicht vergessen wird! Indem wir von den Tätern berichten, verteidigen wir die vielen Stasi-Opfer, denen man Existenz und Würde nahm. Das kurze Gedächtnis der öffentlichen Meinung vergisst ihr Leiden zu gern.
Was David Gill vom »Bürgerkomitee Normannenstraße« betrifft, saß der frühere Stasi-Abwickler bei unserem letzten Treffen im alten Bürohaus der Ost-CDU beim Berliner Dom. Deren Generalsekretär flog 1990 als Stasi-Informant mit dem Tarnnamen »IM Küster« auf. Von solchen Zufällen inspiriert, richten wir Bilder in einer bestimmten Erzählweise
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