Die sterblich Verliebten
um meinetwillen, die ich nun meinen morgendlichen Antrieb verlor. Wie leicht verschwindet jemand von der Bildfläche, dachte ich. Da muss einer nur woanders arbeiten oder wohnen, schon erfährt man nichts mehr von ihm, sieht ihn sein Lebtag nicht wieder. Ja er muss bloß seinen Zeitplan ändern. Wie brüchig sind doch die visuellen Bande. Ich fragte mich, ob ich nicht doch einmal das Wort an sie hätte richten sollen, nachdem sie so lange für mich die Fröhlichkeit verkörpert hatten. Nicht, um sie zu belästigen oder ihnen den Moment ihres Beisammenseins zu verderben, schon gar nicht, um sie außerhalb des Cafés zu sehen, versteht sich, das wäre fehl am Platz gewesen; nein, nur um ihnen meine Sympathie zu zeigen, meine Wertschätzung, sie von da an zu grüßen und mich zu einem Wort des Abschieds verpflichtet zu fühlen, falls ich den Verlag verließ und nicht mehr in diese Gegend kommen würde, und auch sie zu Ähnlichem zu verpflichten, falls sie umzogen oder ihre Gewohnheiten änderten, so, wie uns der Händler im Viertel Bescheid sagt, wenn er den Laden schließt oder weitergibt, und auch wir fast alle Welt benachrichtigen, wenn wir umziehen. Damit man sich wenigstens bewusst macht, dass man die Menschen, die alltäglich um uns sind, nicht mehr vor Augen haben wird, auch wenn man ihnen immer nur einen distanzierten oder zweckdienlichen Blick geschenkt hat, bei dem man kaum auf die Gesichter achtet. Ja, das tut man gewöhnlich.
Also fragte ich schließlich die Kellner. Ihrer Ansicht nach war das Paar bereits in die Ferien gefahren. Das klang mehr nach Vermutung als nach verlässlicher Auskunft. Es war ein wenig früh dafür, aber manche verbringen den Juli lieber nicht in Madrid, wenn die Hitze zu Feuer wird, und vielleicht konnten Luisa und Deverne es sich erlauben, zwei Monate wegzufahren, wohlhabend und frei genug schienen sie zu sein (ihr Einkommen hing womöglich nur von ihnen ab). Zwar bedauerte ich es, bis September auf meinen kleinen morgendlichen Anreiz verzichten zu müssen, war jedoch beruhigt, dass er zurückkehren würde und nicht für immer vom Erdboden verschwunden war.
Ich erinnere mich, dass mir damals eine Schlagzeile untergekommen war, die von einem erstochenen Madrider Unternehmer handelte, und schnell weitergeblättert hatte, ohne den Artikel ganz zu lesen, gerade wegen des Bilds zur Nachricht: das Foto eines hingestreckten Mannes mitten auf der Straße, auf der Fahrbahn, ohne Sakko, Krawatte und Hemd oder vielmehr mit offenem, herausgezogenem, den die Samur-Sanitäter wiederzubeleben, zu retten versuchten, inmitten einer Blutlache, das weiße Hemd durchtränkt und befleckt, wie ich es mir nach flüchtigem Blick zumindest ausmalte. Das Gesicht war aus dem gewählten Blickwinkel kaum zu erkennen, und ich schaute es mir ohnehin nicht an, ich hasse die heutige Manie der Presse, dem Leser oder Zuschauer die brutalsten Bilder nicht zu ersparen – oder womöglich verlangen sie gerade danach, gestört, wie sie sind, im Großen und Ganzen; doch verlangt niemand, was er nicht schon kennt und bekommen hat –, als reichte die Beschreibung mit Worten nicht, und ohne die geringste Rücksicht gegenüber dem brutal Misshandelten, der sich nicht mehr wehren oder vor den Blicken schützen kann, denen er sich bei Bewusstsein niemals ausgesetzt hätte, wie er sich vor Unbekannten auch nicht im Bademantel oder Pyjama zeigen würde, weil er sich darin nicht für präsentabel hält. Einen toten oder sterbenden Menschen zu fotografieren, vor allem nach einer Gewalttat, halte ich für eine Unverschämtheit, für die größte Respektlosigkeit vor dem, der gerade zum Opfer, zum Leichnam geworden ist – solange man ihn sieht, scheint er noch nicht ganz tot, nicht ganz Vergangenheit zu sein, und dann muss man ihm gestatten, vollends zu sterben und ohne störende Zeugen oder Zaungäste aus der Zeit zu treten –, ich bin nicht bereit, mir diese Sitte aufzwingen zu lassen, habe keine Lust, das anzusehen, wozu man uns drängt oder fast nötigt, und neugierige, entsetzte Augen unter die der Tausenden zu mischen, deren Köpfe beim Zuschauen mit unterdrückter Faszination oder wohliger Erleichterung denken mögen: ›Ich bin es nicht, ein anderer liegt da vor mir. Bin es nicht, weil ich sein Gesicht sehe, und es ist nicht meins. Ich lese seinen Namen in der Presse, und auch der ist nicht meiner, sie stimmen nicht überein, so heiße ich nicht. Es hat einen anderen getroffen, was mag der getan haben, auf welche
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