Die Sternseherin
eine Vergütung sogar bis in die Wohnung liefert. Und wenn nicht – ein Taxi tut es auch, ich bin nämlich kräftig, musst du wissen.«
Estelle schaute skeptisch auf die Oberarme ihrer neuen Freundin, muskulös wirkten diese eigentlich nicht. Sie hätte vermutlich auch moralisch entrüstet sein sollen, denn es bestand kein Zweifel, dass Manon selten in die Verlegenheit kam, diese angebliche Stärke einsetzen zu müssen, weil sie offenbar gerne und gekonnt flirtete. Und mit all ihrem Zwinkern und Blinzeln war auch ziemlich klar, was sie unter »entsprechender Entlohnung« verstand, aber ihre Lebensfreude war einfach ansteckend, und so kicherten die beiden gemeinsam und widersprachen nicht, als sich der junge Verkäufer tatsächlich anbot, ihre Besorgungen später persönlich zu liefern. Die Frau an der Kasse nahm Estelles Kreditkarte zwar wortlos entgegen, schnaufte aber die ganze Zeit missbilligend. Sobald die Waren abgerechnet waren, raffte sie ihren Sari zusammen und eilte in den hinteren Bereich des Ladens. Sehr wahrscheinlich, um ihrem Sohn die Leviten zu lesen, weil er den Servicebegriff für gewisse Kundinnen allzu sehr übertrieb.
»Dabei hat der Gute überhaupt keinen Gewinn davon, dass er unsere Einkäufe bis unters Dach hinaufträgt«, flüsterte Manon. »Das bildet der Kleine sich selbstverständlich nur ein, er ist ja fast noch ein Kind.«
Hätte Estelle in diesem Moment nicht ein Antiquariat entdeckt, wäre ihre Antwort sicherlich anders ausgefallen. Doch so lächelte sie nur und überquerte ungeachtet der hupenden Autos die Straße, und stoppte erst, als ihre Nase fast die trübe Schaufensterscheibe berührte.
»Himmel, ein Bücherwurm!« Manon hastete hinter ihr her. »Vergiss es, Baby! Da kriegst du eher in der Nationalbibliothek ein Buch geschenkt, als dass dir hier eines verkauft wird. Der Laden öffnet selten genug, aber ich kenne den verrückten Verkäufer, er trennt sich nie von einem seiner staubigen Exemplare. Und obwohl er ganz passabel aussieht, geht er niemals aus. Meine Freundin hat schon mehr als einmal versucht, ihn zum Tee einzuladen.« Manon entdeckte das Funkeln in Estelles Augen. »Herzchen«, sagte sie mitleidig, »verzeih mir die Offenheit, aber wenn sie es nicht schafft, dann hast du bestimmt keine Chance!« Und Estelle sah in ihrem Blick, was sie bisher nicht hatte wahrhaben wollen: Ihre einst wie Ebenholz glänzende Mähne hing wie ein mottenzerfressener Trauerflor um ihre knochigen Schultern, und jedes Opossum wäre angesichts dieser Augenringe depressiv geworden. »Ich möchte nach Hause.«
Manon sah sie an. »Tut mir leid, das war nicht fair. Du hast eine anstrengende Reise hinter dir. Lass uns gehen.«
Wenig später sank Estelle erschöpft in ihr neues Bett. An der Grenze zum Schlaf tauchte ganz kurz die Frage aus ihrem Bewusstsein auf, warum sie sich sofort wie Zuhause fühlte. Wie viel Magie war wirklich im Spiel? Doch bevor sie dieses Rätsel auflösen konnte, hatte der Schlaf schon – zum ersten Mal seit langer Zeit – mit Nachdruck von ihr Besitz ergriffen.
III
Als sie am nächsten Morgen in die Küche tappte, fand sie auf einer Tafel folgende Nachricht in Manons großzügiger Handschrift:
Frühstück ist im Kühlschrank.
Treffe dich gegen acht beim Richter.
xxx
Manon
Es dauerte einen Moment, bis ihr klarwurde, dass mit »Richter« das Pub vis-à-vis des interessanten Buchladens gemeint war, das Manon ihr gezeigt hatte. Beim Gedanken an das Antiquariat begann aus unerklärlichen Gründen ihr Herz zu klopfen. Irgendetwas befand sich zwischen den alten Büchern, die sie durch die schmutzigen Scheiben in den Regalen gesehen hatte, das nach ihr rief. Sie liebte Geheimnisse und nahm sich vor, dieses unbedingt bald zu ergründen. Eine weitere Erinnerung an den gestrigen Abend trübte allerdings ihre Unternehmungslust. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen gehen lassen, extrem abgenommen und sah inzwischen wirklich wie eine Vogelscheuche aus. Also würgte sie tapfer eine große Schüssel Müsli runter, murmelte: »Bist du in Rom, tu’ es den Römern gleich«, und aß anschließend einen dick mit Marmelade bestrichenen Toast, der komisch schmeckte, denn die Butter darauf war überraschenderweise salzig. Um alles herunterzuspülen, braute sie einen Tee, dessen Farbe trotz der dazu gegossenen Sahne eher an Kaffee erinnerte und der mit drei Stückchen Zucker deutlich zu süß war. Danach zog sie kurz in Erwägung, sich noch eine Portion
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