Die Sternseherin
sie aber bei jeder Begegnung deutlich das Dunkel wahr, das ihn umgab und das mit Sicherheit typisch für Vampire war, denn auch Nuriyas Aura enthielt Spuren davon. Dem Mann neben ihr fehlten diese Merkmale, genau genommen schien er gar keine Aura zu haben. Behutsam öffnete sie sich für ihre Umgebung, wohl wissend, dass sie damit einen Anfall riskierte.
Nichts. Keine Gedanken, keine Gefühle, gar nichts.
Sie schaute noch einmal hinüber. Ahnte er, dass sein rotblonder Bartschatten zusammen mit der Kerbe im Kinn ihre Knie puddingweich werden ließ? Nicht ganz auszuschließen, denn kleine Fältchen bildeten sich um seine Augen, während er ihren Blick erwiderte und das Lächeln sich vertiefte. Aus dem kinnlangen Haar tropfte der Regen und sein dunkler Mantel glänzte vor Feuchtigkeit. Eventuell ein Indiz dafür, dass er vor dem Kaufhaus auf sie gewartet hatte. Sie sollte sich Sorgen machen, womöglich wurde sie gerade entführt. Aber sie konnte nur auf seinen Mund starren, der plötzlich nur noch wenige Zentimeter entfernt war. Erwartungsvoll senkten sich ihre Lider. Bremsen quietschten, der Wagen kam zum Stehen und Estelle erwachte ungeküsst aus ihrem Traum.
Ungeduldig sah der Fahrer sich um. »Da wären wir, Mädchen! Oder soll’s noch weitergehen für den Herrn?«
Erschrocken raffte sie ihre Einkäufe zusammen und stürzte hinaus. Anstelle des Regens ließen nun die letzten Sonnenstrahlen des Tages die alten Pflastersteine wie frisch lackiert glänzen, und sie floh in die schmale Gasse, die in ihren Hof führte. Zu spät fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte zu bezahlen. Als sie sich umwandte, hatte der Fremde dies offenbar schon erledigt und stand nun im Schatten der Häuser dicht hinter ihr. Er war nicht viel größer als sie, denn dank ihrer neuen Schuhe, deren Absätze zehn Zentimeter hoch waren – eine Extravaganz, die sie sich privat nie zuvor erlaubt hatte –, hieß das, er maß fast Einsneunzig. Dummerweise war dadurch dieser verführerische Mund wieder in Reichweite, und Estelle fühlte bereits, wie ihre Knie nachgaben. Sie lehnte sich an die feuchte Hauswand, hob ihr Kinn erwartungsvoll und schloss die Augen vor dem Abendlicht, das plötzlich seinen Weg in die dunkle Gasse fand, als habe jemand die Laternen angezündet. Schon meinte sie die federleichte Berührung seiner Lippen zu spüren, da räusperte er sich. Mist! Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass der Mann einen Schritt zurück in den Schatten getreten war.
»Verrätst du mir deinen Namen?«, fragte er mit einer Stimme, die gut zu dem Bild des Traummannes passte, das ihre Fantasie in den letzten Minuten ausgemalt hatte. Sein Akzent klang irgendwie nordisch und Estelle fand ihn hinreißend. Selbstkritisch dachte sie: In dem Zustand, in dem ich mich befinde, könnte er auch grunzen wie ein Eber und ich fände ihn noch süß. Laut gab sie zurück:
»Man sollte meinen, dass Sie sich zumindest vorstellen, wenn Sie schon zu einer Fremden ins Taxi steigen.« Die Enttäuschung über den entgangenen Kuss verlieh ihrer Stimme einen scharfen Ton.
»Entschuldigung, wo sind nur meine Manieren geblieben. Ich bin Julen, jetzt du.«
Sie wusste von der Macht, die ein Name im falschen Augenblick haben konnte. Aber war dieser Fremde nicht einer von ihnen, ein naher Verwandter? Und wer wusste nicht sonst schon alles, wie sie hieß! Niemand aus der magischen Welt kennt alle deine Namen, flüsterte ihre innere Stimme. Der Vampir kennt sie aber schon! Ich will ihm ja auch nur einen verraten, dachte sie und sagte: »Ich heiße Estelle«, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.
»Der Name passt wunderbar zu dir!« Der Elf, Julen, korrigierte sie sich, sah sie durchdringend an, und es sprach für eine Rückkehr ihres Selbstbewusstseins, dass sie seinen Blick offen erwiderte. Dabei stellte sie fest: Seine Pupillen veränderten sich nicht. Wenn die Augen wirklich der Spiegel der Seele waren, wovon sie fest überzeugt war, dann herrschte hier völlige Leere. Unheimlich! Ein anderer Gedanke verhinderte, dass sie weiter über dieses Rätsel nachdachte. Wenn er jetzt bloß keine falsche Bemerkung macht! Ein schmieriges Kompliment im Stil von »Deine Augen strahlen wie die Sterne am Firmament!« oder was Männer sich sonst einfallen ließen, sobald sie wussten, dass Estelle »Stern« bedeutete, hätte seine Attraktivität zweifellos enorm verringert.
Als ahnte Julen ihre Bedenken, lächelte er und der Bann war gebrochen. »Soll ich dir helfen, sie
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