Die Sternseherin
ermöglichen. Psychotherapie war wahrlich nicht sein Fachgebiet, doch er kannte jemanden, dem er zutraute, Estelle zu helfen. Und Hilfe brauchte diese Feentochter, denn sie schwand gewissermaßen unter seinem strengen Blick dahin.
»Möchtest du zu Selena ziehen?«
Estelle schüttelte kaum merklich den Kopf. Kieran lächelte, obwohl er ahnte, dass sie einfühlsam genug war, um zu erkennen, dass seine Freundlichkeit mehr Pflicht als Kür war. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sie auf den Mond geschossen. »Also gut. Nach Paris kannst du nicht mehr zurück, aber ich habe da eine Idee!«
Tränen quollen unter ihren Lidern hervor. »Bitte geh, ich muss allein sein!«
Als sie die Augen endlich wieder öffnete, war der Vampir schon lange fort. Wenige Tage später lag ein Umschlag auf ihrem Nachttisch. Mit zitternden Händen riss sie ihn auf und Reiseunterlagen flatterten heraus. Der Begleitbrief stammte zu ihrem Erstaunen von Selena:
Liebste Schwester,
es schmerzt uns alle sehr zu sehen, wie unglücklich Du bist. Deshalb haben wir uns entschlossen, Dir einen Start in eine hoffentlich bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich bete, dass Du Dich an Deinem neuen Wohnort wohler fühlen wirst und Deine Studien dort weiterführen kannst. Sie haben da einige ganz vorzügliche Bibliotheken, sagt man.
Estelle konnte das Lächeln in Selenas Stimme beinahe hören, als sie dies las.
Estelle, ich bitte Dich, glaube nicht, dass wir Dich loswerden wollen, sondern sieh dies als eine Chance, Deine Probleme in den Griff zu bekommen. Wenn Du mich brauchst, bin ich immer für Dich da!
Deine Dich liebende Schwester
Selena
Darunter klebte eine Kreditkarte. Die Handschrift ihrer Zwillingsschwester wirkte fahrig. Estelle hätte schwören können, dass sich Tränenspuren auf dem ordentlich gefalteten Papier befanden. Das Letzte, was sie wollte, war, dass auch noch Selena unglücklich wurde. Sie machte sich Vorwürfe, schließlich trug sie als die Erstgeborene auch Verantwortung für ihre kleine Schwester. Aber dann gewann ihre Neugier die Oberhand und sie blätterte durch die Unterlagen. Unter den Reisedokumenten fand sie die Immatrikulationsbescheinigung einer renommierten Universität und den Hinweis, dass sie am Zielbahnhof von ihrer neuen Mitbewohnerin abgeholt werden würde. Selena hatte neben einer zusätzlichen Wegbeschreibung die Broschüre eines Maklers beigefügt, auf der »Alternative« stand. So als verstünde sie genau, wie sehr ihre Schwester es verabscheute, von anderen abhängig zu sein und nicht selbstbestimmt handeln zu können. Im Nachhinein betrachtet war dies der ausschlaggebende Punkt für sie gewesen, das Angebot anzunehmen.
Ihr blieb wenig Zeit, ihre Sachen zusammenzupacken, und als sie wenig später zum Telefon ging, um ein Taxi zu bestellen, stand Kierans Limousine schon abfahrbereit vor der Tür. Sie ärgerte sich darüber, dass der Vampir offenbar nicht einmal in Betracht gezogen hatte, dass sie sein Angebot ausschlagen könnte, denn dass die Idee von ihm stammte, davon war Estelle überzeugt. Und einen Moment lang hielt sie inne, war sie versucht umzukehren – einfach nur, um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen und zu beweisen, dass sie nicht so leicht zu manipulieren war; ihn weiter mit ihrer Anwesenheit zu nerven, bis er die Geduld verlor und sie rausschmiss. Das würde ihrer verliebten Schwester endlich die Augen öffnen, mit welch einem Monster sie sich eingelassen hatte. Doch die Freiheit lockte. Der Chauffeur hielt ihr bereits die Wagentür auf und tippte sich höflich an die Mütze, die zu seiner dezenten Uniform gehörte. Sie erkannte, dass sie in dieser Welt des Luxus immer eine Fremde bleiben würde. Und so schnappte sie ihre Koffer und Taschen, stürmte die Treppen hinunter, bevor der Mann ihr entgegeneilen konnte, warf sich auf den Rücksitz des Wagens und zog die Tür hinter sich zu. Als sie sich noch einmal umsah, schien es ihr, als starre das Haus kalt und abweisend zurück. Den Schal fest um die Schultern gewickelt widerstand sie nur mühsam dem Wunsch, ihre Knie bis zum Kinn hochzuziehen und sich wie ein verängstigtes Tier in eine Ecke zu kauern. Niemand war gekommen, sie zu verabschieden. Doch das war ihr gerade recht, und während der Kies unter den Rädern knirschte, fühlte sie sich mit jedem Meter freier, den sie dem Tor entgegen rollten. »Heinrich, der Wagen bricht!«, murmelte sie und konnte fast schon durchatmen, als der Fahrer entgegnete: »Nein, Madame, der
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