Die Sternseherin
entwand es ihrem Griff. Der lang anhaltende Ton, der signalisierte, dass die Verbindung abgebrochen war, verstummte und für einen Augenblick hörte sie nur das Schlagen ihres eigenen Herzens. Sie blickte auf. Der Vampir stand da und sah mit ausdruckslosem Gesicht auf Estelle herab. Hinter ihm materialisierte sich Nuriya, ihre ältere Schwester. Mit roten Locken, die wilder denn je um ihren Kopf züngelten, ähnelte sie mehr einer Windsbraut als dem scheuen Mädchen, das sie einst gewesen war. Oder jemandem, der gerade dem Bett entstiegen ist, dachte Estelle mit einem Blick auf leicht geschwollene Lippen hinter denen, wie sie wusste, scharfe Reißzähne verborgen waren. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, über ähnliche Kräfte zu verfügen wie die Vampirin. Damit ausgestattet wäre sie ganz gewiss nicht hier geblieben, wo sie hilflos den Launen des blutgierigen Duos ausgeliefert war.
»Selena geht es gut!« Nuriya, die eben noch gestanden hatte, saß plötzlich neben ihr.
Estelle hatte es noch nie gemocht, wenn jemand unaufgefordert ihre Gedanken las.
»Schwesterchen, was hast du nur getan?« Ein vertrauter Duft hüllte sie ein, der sie an bessere Zeiten erinnerte. Worte der Beruhigung flossen wie Seidentücher über ihre Seele und sie begann, sich zu entspannen – bis endlich ihr Überlebenswille erwachte und sie erstarrte. Waren dies nicht die Worte eines Raubtiers in Menschengestalt, das versuchte, seine Beute in Sicherheit zu wiegen, bevor es den tödlichen Biss ansetzte? »Nein!«
Sofort verstummte die Schwester und rückte von ihr ab. »Um Himmels willen, hast du immer noch Angst vor mir?« Sie klang verletzt, aber Estelle dachte: Welches Recht hat sie, beleidigt zu sein? Sie hat doch uns im Stich gelassen und ist schließlich nur nach Hause zurückgekehrt, um sich mit Kieran zu verheiraten, oder wie auch immer dies bei Vampiren genannt wurde.
Kieran hatte nie einen Hehl daraus gemacht, womit er seinen Lebensunterhalt bestritt: dem Jagen und Töten abtrünnig gewordener oder fehlgeleiteter magischer Wesen. Er war ein »Vengador«, ein Vollstrecker des magischen Rates. Und man munkelte, Nuriya unterstütze ihn dabei zuweilen überaus erfolgreich. Estelle fragte sich deshalb nicht ohne Grund, ob sie selbst heute zur Strecke gebracht werden sollte. Denn schließlich stellte auch sie zweifellos eine Gefahr für die geheime Welt jenseits der menschlichen Vorstellungskraft dar, weil sie die Aufmerksamkeit der Sterblichen auf sich gelenkt hatte.
Sie zuckte zusammen als Nuriya die Hand ausstreckte, um ihre Schulter zu berühren. Die Schwester seufzte und stand auf. »Kieran, erklär du es ihr!«
Der Vampir sah einen Augenblick aus, als wolle er die Augen verdrehen, dann war seine Miene wieder undurchdringlich. »Warum du uns nicht rechtzeitig informiert hast, dass deine Kräfte außer Kontrolle geraten sind, wirst du mir später erklären. Jetzt müssen wir dich erst einmal in Sicherheit bringen.«
Estelle wollte protestieren, verstummte aber, als er die Hand hob und fortfuhr: »Keine Diskussionen! Mit deinen Eskapaden bringst du die Familie in Gefahr.«
Und während er erläuterte, was als Nächstes zu geschehen hatte, saß sie still da und überlegte, welche Familie er gemeint haben könnte. Die magische Welt vielleicht oder seinen Clan geborener Vampire, die sich für die Elite der Blutsauger hielten? Oder etwa das, was von ihrer einst glücklichen Familie übriggeblieben war? Wohl kaum. Die Tante, die sich nach dem tragischen Unfall der Eltern viele Jahre um die drei verwaisten Mädchen gekümmert hatte, war seit Monaten auf einem Selbstfindungstrip rund um den Globus mit ihrem »Hexenzirkel«, der, wie sich herausgestellt hatte, auch eine Lottospielgemeinschaft war und sechs Richtige getippt hatte. Selena kam ganz gut allein mit Tantchens Buchladen zurecht, den sie ohnehin schon seit geraumer Zeit gemeinsam mit Estelle geführt hatte, während die schrullige Schwester ihrer Mutter sich mehr und mehr ihren esoterischen Studien widmete. Estelles Aufgaben übernahm nach ihrem Umzug nach Paris Selenas Freund. Ein netter Mann, dessen einziger Fehler es war, einmal im Monat ein dichtes Fell zu bekommen und den vollen Mond anzuheulen. Nuriya wirkte auch nicht besonders schutzbedürftig, wie sie dort stand und mit grünglitzernden Augen auf das schwarze Schaf der Familie herabblickte.
»Hast du mich verstanden?« Kieran schwieg einen Moment, aber nicht so, als warte er auf eine Antwort von ihr, sondern als
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