Die Stille in Prag - Rudis, J: Stille in Prag - Potichu
aufgerissenen Augen sieht sie nach oben, in den Himmel. Um sie herum eine Menschentraube, alle beugen sich über sie, aber keiner traut sich, sie anzufassen. Jemand ruft nach einem Arzt. Eine junge Ärztin taucht auf.
Wayne ringt nach Luft und hält den Typen am Hals. Der schreit: »Vanda! Vanda! Man muss ihr helfen, verdammt!« und versucht, sich von Wayne loszureißen. Ein anderer Typ springt zwischen sie. Reißt sie auseinander. Und schlägt Wayne zu Boden.
Hana kommt wieder zu sich.
Sie muss doch etwas tun. Spätestens jetzt. Wayne liegt mit Handschellen auf dem Boden. Er hat nur noch einen Schuh an. Sein Hemd ist zerfetzt. Er blickt in Hanas Richtung, aber er sieht sie nicht. Er sieht durch sie hindurch. Er ist ganz außer sich.
Die Bullen sammeln ihn auf und laden ihn ins Auto.
KIESELSTEINE
S tille. Vanda hört nichts und niemanden, geschweige denn sich selbst. Auf ihren Lippen klebt etwas Süßliches. Sie hat keine Ahnung, wo sie ist. Sie spürt nichts, am wenigsten ihren eigenen Körper. Sie sieht nur die Sterne am Himmel. Sie sehen vollkommen aus, klar und wunderschön. Für einen Moment denkt sie, sie liege zu Hause im Bett unter dem phosphoreszierenden Tapetenhimmel.
Sie beobachtet die Sterne und es kommt ihr vor, als würden sie näher kommen. Oder auf sie zufliegen. Auf einmal huscht ein Fisch mit einem langen Schleier an ihr vorbei. Nestor. Das war bestimmt Nestor. Er schwimmt durch den Himmel. Mit seinem Schleier wischt er die Sterne sauber und poliert sie auf Hochglanz.
Vanda spürt den salzigen Duft von Meereswellen und einen sanften Wind. Die Stille hört plötzlich auf. Sie hört das Meer rauschen. Die Strömung. Das Meer nimmt sie mit. Das Meer. Der Himmel strahlt noch mehr. In Vandas Augen stehen Tränen.
Sie liegt auf dem Rücken und lässt die Sterne auf sich herunterrieseln. Engel beugen sich über sie. Sie kommen aus einer großen Entfernung und schenken ihr das Hören wieder.
»Vanda … Vanda! Alles wird gut, alles …«
Der Straßenbahner.
Jemand hält ihren Kopf:
»Wo tut es dir weh? Kopf? Bauch? Dein Mund?«
Vanda antwortet nicht. Es geht nicht. Sie liegt auf dem Gehsteig. Die Pflastersteine in ihrem Rücken fühlen sich kühl an. Vielleicht ist es kein Straßenpflaster, sondern sind es Kieselsteine am Strand. Sie spürt das Meer. Sie sieht die Sterne. Und sie fühlt sich wunderbar.
DIE SCHWEDIN
S ie steht unter Schock. Ihre Lippen sind versengt. Die Augen weit offen. Sie muss wahnsinnige Schmerzen haben. Petr fasst nach ihrer Hand. Eisig kalt. Sie kommt zu sich.
»Was ist mit Harry?«, flüstert sie.
»Mit wem?«
»Mit dem Schlagzeuger.«
»Keine Ahnung …«
»Und die Mädels?«
»Welche Mädels?«
»Freundinnen von mir. Ich weiß gar nicht, ob sie gekommen sind.«
»Vanda, alles wird gut.«
»War meine Mama da?«
»Weiß ich doch nicht.«
»Wer kann es denn wissen?«
»Sie war da … Ja, sie war ganz bestimmt da …«
Die Ärztin wickelt Vanda in eine Decke.
»Sind Sie ihr Freund?«
»Nein. Ja. Nein … Ein Freund.«
Die Sanitäter legen Vanda auf die Trage.
Petr steht am Krankenwagen. Fasst nach ihrer Hand. Sie fühlt sich immer noch eisig an.
»Alles wird gut, Vanda. Hab keine Angst.«
»Hast du ’ne Fluppe?«
»Vielleicht solltest du jetzt nicht rauchen.«
»Für später …«
Petr holt die zerknitterte Schachtel mit den restlichen Zigaretten hervor und schiebt sie Vanda unter ihr schwarzes Top.
Der Krankenwagen fährt ab.
»Ne hübsche Puppe. Das wird wieder gut, Mann.«
Egon legt ihm einen Arm um die Schulter.
»Ich wollte ihr nur helfen.«
»Die werden ihr schon helfen … Und jetzt kümmere ich mich um dich.«
Seinen Arm immer noch um Petrs Schulter gelegt, nickt er zu den beiden jungen Frauen: »Das ist Sylva. Sie fängt gerade ihr Jurastudium an. Spricht perfekt Französisch. Weiß sogar, was la petite mort bedeutet, nicht? Die kleine Meerjungfrau und der Orgasmus. Herrlich … Ein guter Slogan. Und hier haben wir Stephanie. Sie geht auf die Kunsthochschule, kann wunderbar zeichnen und fotografieren. Echtes Talent. Meine Damen, das ist Petr. Der letzte Romantiker von Prag.«
»Was heißt das?«, fragt Sylva.
»Was ganz Besonderes. Die Romantiker gehören zu einer aussterbenden Gattung«, fährt Egon fort.
»Ich habe schon lange keine solche Rauferei mehr gesehen. War das wegen einer Frau?«, fragt Stephanie. Sie ist groß, blond und schlank.
»Er rauft sich immer nur wegen Frauen.«
»Irre. Solltest du mal juristischen
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