Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Horizont gerichtet, weil es das Einzige war, was er tun konnte – weitersegeln. Weil er keine andere Wahl hatte.
Erst als Smudge die Insel entdeckte, dämmerte ihm, dass er möglicherweise doch eine Wahl haben könnte. Sie war die ganze Zeit direkt vor seiner Nase gewesen. Er hatte ihr das Fernglas aus der Hand genommen und hindurchgesehen. Zwar waren sie ein gutes Stück davon entfernt, trotzdem konnte er erkennen, dass die Insel ziemlich genauso aussah wie all die anderen, an denen sie vorbeigesegelt waren: bergig, mit einem uralten Vulkan, der sich aus der Mitte erhob, und einer so verdorrten und unwirtlichen Landschaft, dass jede Besiedelung unmöglich schien. Er fragte sich flüchtig, wo sie sich befinden mochten, wie die Insel wohl hieß und welche Landessprache ihre Bewohner sprachen, doch sein Interesse war nicht groß genug, um hinüberzusegeln und es herauszufinden. Es war besser, es nicht zu wissen. Sie mussten irgendwo auf der Höhe Afrikas sein, alles andere war unwichtig. Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Längen- und Breitengrade zu errechnen – vielleicht sollte er ja den Sextanten herausholen; es war Mittag und damit die perfekte Zeit dafür. Aber was sollte das bringen?
Den ganzen Nachmittag über hielt er Kurs auf die Insel, dann drehte der Wind plötzlich, und er stellte fest, dass sie zügig darauf zuhielten. Je näher sie der Insel kamen, umso deutlicher wurde, dass er sich im Hinblick auf die Besiedelung geirrt hatte. Auf den Hängen waren vereinzelte Steinhäuser auszumachen. Allmählich nahm seine Idee Gestalt an. Durchs Fernglas entdeckte er sogar einen kleinen Hafen, den er jedoch umfuhr – er hatte keinerlei Verlangen, andere Menschen zu sehen oder von ihnen gesehen zu werden; offen gestanden, fühlte er sich selbst schon nicht mehr wie ein Mensch. Stattdessen segelte er um den Hafen herum auf die Westseite der Insel, wo die Küste felsig und zerklüftet war. Zwar gab es die eine oder andere türkisfarbene Bucht, doch die Strände bestanden zumeist aus dunklem Vulkansand, der bei den Touristen nicht allzu beliebt war.
Inzwischen war der Mond aufgegangen. Riesig und gelb stand er am Himmel und stahl der Sonne das letzte Licht, ehe sie am anderen Ende des Horizonts verschwand.
Als er die Kirche erspähte, war auf einmal alles klar. Wenigstens einer von ihnen würde gerettet werden. Der Anblick eines Kreuzes hatte, wenn auch nur unterbewusst, etwas seltsam Tröstliches an sich. Dieses Kreuz war weithin sichtbar. Gewichtig und prominent thronte es auf der kleinen Kirche auf dem Hügel, während vereinzelte Häuser die geschützte Bucht zu ihren Füßen säumten. Etwa ein Dutzend bunt gestrichener Fischerboote war an einem Anleger festgemacht und leuchtete im goldenen Abendlicht. Noch immer waren sie gut zwei Meilen von der Bucht entfernt, doch Johnny wusste nun, was er zu tun hatte. Zum ersten Mal seit Clems Verschwinden verspürte er so etwas wie Entschlossenheit.
Er segelte an der Kirche vorbei und steuerte die Little Utopia in eine winzige Bucht in der Nähe eines natürlichen Felsrundbogens. Der Mond stand hoch am Himmel, war kleiner und silbrig geworden, doch sein Schein war heller denn je zuvor. Das Wasser war so klar, dass er den Anker erkennen konnte, wie er sich backbord in den Sand unter ihnen grub und Halt fand. Das Boot schwang herum. Johnny setzte sich an Deck und drehte sich eine letzte Zigarette. Dann nahm er das Fernglas und studierte eingehend die Bucht, jeden einzelnen Winkel davon, bis sein Blick auf einen kleinen Pfad zwischen den Felsen auf der hinteren Seite des Strands fiel.
Er erzählte Smudge, sie würden sich heute Abend fürs Essen an Bord in Schale werfen. Überrascht, dass er sie überhaupt ansprach, hob sie den Kopf. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass er entweder vor Wut zeterte oder gänzlich schwieg. Ihre Züge erhellten sich, und wieder war die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter so überdeutlich, dass sich die Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Er erzählte ihr, gleich morgen würden sie an Land gehen, aber vorher noch eine Dinnerparty an Bord feiern.
Smudge ging ins Vorschiff, während Johnny die nicht vorhandenen Vorräte in der Kombüse durchwühlte. Es war nur noch eine Packung Nudeln übrig. Er suchte weiter und fand schließlich eine Dose Sardinen unter dem Sessel. Es war eine halbe Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal so etwas wie eine richtige Mahlzeit zu sich genommen hatten. Er schöpfte Wasser aus dem Meer und setzte einen
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