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Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition)

Titel: Mittelstadtrauschen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margarita Kinstner
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1  Marie läuft die Ringstraße entlang. Mückenschwärme fliegen ihr ins Gesicht, in Augen und Nase und auch in den Mund, den sie ein wenig offen stehen hat. Sie streckt die Zungenspitze heraus und fährt sich mit Daumen und Zeigefinger darüber. Von links schiebt sich ein dichtes Wolkenband über die Häuser und vertreibt das Sommerblau. Schon spritzt und spuckt es auf Köpfe und nackte Schultern, eilig flüchten Spaziergänger unter Markisen und retten sich in Kaffeehäuser, Kioskbesitzer rollen die Tageszeitungen unter das Dach, Fensterläden schlagen im Wind, Schirme werden aufgespannt. Maries Absätze klappern auf dem Asphalt, als sie in die engen Gassen des ersten Bezirks hineinläuft. Sie drückt eine Glastür auf und schiebt den roten Samtvorhang zur Seite.
    Was für eine Welt!
    Touristen beugen sich über Stadtpläne und rühren in hellbraunen Mozartkaffees, weißgelockte Damen stechen mit kleinen Gabeln in cremige Torten. In den Ecken verstecken sich Studenten hinter hölzernen Zeitungshaltern und rascheln mit dem rosafarbenen Papier. Die Espressomaschine rattert und zischt, Löffel klappern, Rauchschwaden schweben über den Köpfen und hocken sich auf rotgepolsterte Bänke. In der Mitte des Saales ein Gewirr aus Marmorplatten, Tischbeinen und Stuhllehnen, dazwischen farbige Rucksäcke und ein von einer Lehne gerutschter Seidenschal. Marie wühlt sich durch, kämpft sich vor, weicht aus und steigt drüber. Eine Gruppe von Teenagermädchen kichert hinter vorgehaltenen Händen, daneben sitzen zwei junge Frauen, eine davon mit einem Säugling im Arm. Ein Spalt im T-Shirt öffnet sich, schon springt eine Warze heraus und ragt in den Raum hinein. Hinter den Zeitungshaltern verrenken sich Hälse, Münder stehen offen, Blicke werden eingebrannt. Und auch Marie stolpert vor lauter Schauen über ein Stuhlbein, hält sich an einem Tisch fest, der dabei ins Wanken gerät. Eine Kaffeetasse kippt um, die Farbe erinnert sie an die Mur, trüb und braun fließt die Flüssigkeit über die Tischplatte und tropft auf den Boden.
    Hinter der Zeitung lugt einer hervor. Sieht zuerst seinem Kaffee beim Auslaufen zu, dann Marie in die Augen.
    Mit der Liebe ist es so eine Sache. Vater und Mutter kann man sich nicht aussuchen, in eine Familie wird man schließlich hineingeboren. Aber wie ist das mit der großen Liebe (oder auch der kleinen)? Schicksal, sagen die weißgelockten Damen, deren Männer schon seit Jahren unter der Erde liegen. Das ganze Leben, nichts als Schicksal. Wen du heiratest, wie viele Kinder du kriegst, wann du stirbst und ob du davor noch deine Kinder beerdigen musst – alles Schicksal. Da kann man nichts machen, da muss man sich fügen. Und so unrecht haben sie nicht, die alten Damen, denn wer bestimmt schon, ob man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, oder zur falschen Zeit am falschen Ort, oder zur richtigen Zeit am falschen Ort, oder zur falschen Zeit am richtigen Ort? Wer entscheidet, wenn nicht das Schicksal, und wer traut sich am Ende seines Lebens schon zu sagen, welche Zeit die richtige und welche die falsche gewesen ist, welchen Ort man besser aufgesucht und welchen man besser gemieden hätte?
    Da steht sie nun, die Frau, die sich Marie nennt und eigentlich Laetitia heißt, im hintersten Eck eines Wiener Kaffeehauses, neben der Mutter mit der großen braunen Warze, an der jetzt genüsslich der Säugling nuckelt.
    »Hast du dir wehgetan?«
    Mit einer schnellen Bewegung legt Jakob, dessen Kaffee sie umgestoßen hat, die Zeitung beiseite und lächelt sie an.
    Das Schicksal in Form einer kaffeebraunen Brustwarze ist etwas ganz Besonderes, so etwas erlebt man nicht alle Tage, so ein Schicksal deutet auf Großes hin. Das spüren auch Marie und Jakob, also tupfen sie emsig mit Servietten und Taschentüchern den verschütteten Kaffee auf und rufen nach dem Kellner. Mit schwitzenden Händen lassen sie das Schicksal seinen Lauf nehmen, Marie, indem sie an ihre eigenen rosafarbenen Brustwarzen denkt und wie sie wohl aussehen werden, wenn sie einmal ein Kind in sich tragen wird, und Jakob, indem er gar nichts mehr denkt. Wie die Rauchschlieren ziehen Maries Worte an seinem Kopf vorbei, im Grunde ist es völlig nebensächlich, was sie redet, geredet wird bald einmal in einem Kaffeehaus, vor allem, wenn sich zwei kennenlernen. Da wird das Reden zum Defibrillator, komm schon, komm, in jeder Mundbewegung die Angst, nicht zu genügen, bleib hier, steh nicht auf, geh nicht weg.
    Marie gehört zu den Frauen, die

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