Die Stimme der Erde
gewesen.
Sie mußte unbedingt noch aushalten, bis sie auf dem Markt von St. Ives ankamen. Sonst würden die Männer ihres Vaters sie wahrscheinlich entdecken, und alles wäre vergebens gewesen. Der Gestank, der Juckreiz, der Hunger - alles für nichts und wieder nichts. Der Magen knurrte ihr vernehmlich, und ihre Zunge war vor Durst angeschwollen. Aber sie mußte durchhalten.
Ohne es zu wissen, teilten die Männer ihres Vaters ihr an diesem Abend ihre Liebesgeheimnisse mit. »Ja«, sagte Alfred, ein Mann, der mehr auf die Waage brachte als Lord Henrys Preisbulle, »da behaupten sie immer, es täte ihnen weh, wenn man sie sich vornimmt. Aber wenn du deinen Samen verspritzt hast und dich ein bißchen ausruhen willst, liegen sie dir in den Ohren, du sollst noch eine kleine Runde mit ihnen machen. Pah!«
Philippa stellte sich vor, daß Alfred auf ihr läge. Schon bei dem Gedanken taten ihr sämtliche Rippen weh. Ivo war schwer genug gewesen, aber Alfred war dreimal schwerer. Es folgten prahlerisch ausgeschmückte Geschichten über Eroberungen - keine im Dienst ihres Vaters gegen seine Feinde. Philippa brannten die Ohren. Sie hätte schreien mögen, daß im Wollwagen eine junge Dame steckte. Aber schließlich schlief sie trotz ihrer elenden Lage ein und schlief auch die ganze Nacht durch.
Der nächste Tag verlief genauso wie der erste, nur daß sie jetzt so großen Hunger und Durst hatte, daß sie manchmal minutenlang das quälende Hautjucken und ihren eigenen Gestank vergaß. Sie versank schließlich in eine Art Apathie. Dann hörte sie plötzlich einen Schrei von einem von Lord Henrys Männern. Sie näherte ihren Kopf dem Luftloch. Wieder ein Schrei. Dann: »Überfall! Überfall! Den letzten Wagen schützen! Nein, dort hinüber!«
Lieber Gott! Räuber!
Der Wagen, in dem Philippa steckte, kam zu einem ruckartigen Halt. Sie hörte noch weitere Schreie. Hufschläge näherten sich, bis die Pferde direkt über ihr zu sein schienen. Dann klang Stahl auf Stahl. Sie hörte mehrere Männer laut stöhnen und dann Schritte, die sich in schnellem Lauf entfernten. Sie wollte helfen, aber das war ja unmöglich. Sie konnte nur stilliegen und beten, daß die Männer ihres Vaters die Angreifer zurückschlugen. Sie vernahm ganz nahe ein lautes gurgelndes Geräusch und erschrak bis ins Mark.
Wieder ein lauter Schrei. Dann der Abschuß eines Pfeils von der Sehne. Ein lauter Aufprall - ein Mann mußte vom Pferd gefallen sein. Und dann erhob sich über dem Lärm und dem Stimmengewirr eine einzelne Stimme - die Stimme eines Mannes, der Befehle gab. Die Stimme klang merkwürdig beherrscht und doch von einer so tiefen Eindringlichkeit, daß ihr das Blut in den Adern erstarrte. Das war nicht die Stimme eines gewöhnlichen Räubers. Danach trat Stille ein. Der kurze Kampf war vorüber. Und sie wußte, daß die Männer ihres Vaters nicht gesiegt hatten. Über diesen Tag würden sie keine prahlerischen Geschichten erzählen können. Philippa wartete wie festgefroren in ihrem Nest aus Wolle.
Wieder ertönte die Stimme des Mannes. »Hört, Leute! Eure Bewacher sind so feige, daß sie gleich die Flucht ergriffen haben. Dabei waren sie höchstens leicht verwundet. Ich habe nicht den Wunsch, euch die Kehlen aufzuschlitzen. Was sagst du da, Kerl?«
Osbert war alles andere als vergnügt. Der Schreck saß ihm in den Gliedern, und sein Mund war so trocken, daß er kaum ein Wort herauskriegte. Aber schließlich brachte er einen Katzbuckel zustande und sagte mühsam: »My Lord, erlaubt uns, diesen einen Wagen zu behalten! Er gehört uns, my Lord, meinem Bruder und mir. Er ist alles, was wir besitzen. Wenn Ihr ihn uns wegnehmt, müssen wir verhungern. Die anderen beiden Wagen gehören meinem Lord Henry de Beauchamp. Er ist dick und vollgefressen und braucht sie nicht. Habt Mitleid mit uns Armen, my Lord!«
Philippa hatte große Lust, sich aus ihrem Bett aus Wolle hinauszuarbeiten und Osbert, diesen gemeinen Lügner, anzuschreien. Von wegen verhungern! Der Kerl besaß den blühendsten aller Pachthöfe Lord Henrys. Er war ein Freisasse, und die geringe Pacht, die er an Lord Henry zu zahlen hatte, belastete seinen Geldbeutel nicht sonderlich. Sie wartete darauf, daß der Mann mit der strengen Stimme Osbert für seine Unverschämtheit die Zunge abschneiden würde. Doch statt dessen sagte der Mann: »Ich will gerecht sein. Ich nehme die beiden Wagen, und du kannst deinen behalten.« Sie ärgerte sich darüber, war aber gleichzeitig erleichtert. Die Bauern
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