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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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jemand anders?
    »Ich kann schreiben«, sagte Bruder Gregory mit gelassener Arroganz. »Ich kann Latein, Französisch und gewöhnliches Englisch schreiben. Deutsch allerdings nicht; das ist eine barbarische Zunge, bei der einem die Tinte gerinnt.«
    Er spricht gepflegt, dachte Margaret. Nicht wie ein Bauer oder ein Ausländer. Ich probiere es mit ihm. Und so wagte sie sich weiter vor.
    »Ich brauche jemanden, der ein ganzes Buch schreiben kann.«
    »Einen Kopisten, der ein Gebetbuch abschreibt? Das kann ich.«
    »Nein – ein Buch, ein Buch über Frauen. Ein Buch über mich.«
    Bruder Gregory war entgeistert. Zudem war er sich verschwommen bewußt, daß es an den Schreibtischen in einigen Augenpaaren amüsiert funkelte, während diese die Unterhandlungen aus der Ferne beobachteten. Bruder Gregory blickte die Frau böse an. Bodenlos verwöhnt. Welcher närrische, reiche Mann frönte wohl solch irrwitzigen Phantastereien? Offensichtlich dachte sie, daß man für Geld alles kaufen könne, selbst die Integrität eines Mannes. Er war so zuvorkommend, wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich war, schickte sie jedoch so schnell es ging fort, denn die Schreiber der Kathedrale hatten ihn scharf im Auge.
    Im Weggehen warf ihm Margaret einen durchdringenden Blick zu, und ein schlauer, berechnender Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Ausgerechnet seine Arroganz hatte sie aufmerken lassen. So sind sie alle, die wirklich lesen und schreiben können, dachte sie. Es war ihrem scharfen Blick nicht entgangen, daß Bruder Gregory sich zu voller Größe aufrichtete und von oben herab hochnäsig auf sie herabsah, so als warteten mindestens hundert Mahlzeiten auf ihn und als interessierte ihn ihre Arbeit nicht im mindesten. Ihre Augen folgten ihm, als er sich abwandte und nach einem anderen Auftrag Ausschau hielt.
    Am Spätnachmittag aber war das Glück Bruder Gregory immer noch nicht hold gewesen, und so wanderte er niedergeschlagen hinaus auf den matschigen Kirchhof. Er hatte ein ziemlich hohles Gefühl im Magen, und es kam ihm vor, als ob sich die kahlen Äste und der Teil der Kirchenmauer über seinem Kopf emporhöben und auf äußerst ungewöhnliche Weise herumwirbelten. Gerade hatte er einen Augenblick angehalten, um sich an der Kirchhofmauer anzulehnen, da war wieder diese Frau da, schien aus dem Nichts aufzutauchen, zupfte an seinem abgewetzten Ärmel, und die Magd stand immer noch hinter ihr. Er blickte auf sie herunter, während ihr Gesicht redete und redete und folgte ihr durch einen Irrgarten von Gäßchen zu einer kleinen Garküche in Cheapside, wo sie wohl ihrer Meinung nach ihr Vorhaben ungestörter besprechen konnten. Hier hieß sie Bruder Gregory sich in eine Ecke setzen, bestellte allerlei Essen, jedenfalls mehr als sie brauchte, und schob es ihm hin. Bruder Gregory aß sehr bedächtig, bis die rauchige Decke der Garküche aufhörte, sich hin- und herzubewegen; und die ganze Zeit über bat und bettelte sie außerordentlich demütig und unaufdringlich. Eigentlich gar nicht so verkehrt, ihr Anliegen, insbesondere wenn man bedachte, daß es ihr eine Stimme eingegeben hatte. Man mußte es nur im rechten Licht sehen, dann war es gar nicht so arg, wirklich nicht so arg. Und so erklärte sich Bruder Gregory denn bereit, den nächsten Tag ins Haus ihres Ehemannes an der Themse zu kommen und mit der Arbeit zu beginnen.
    Und schon am nächsten Morgen bahnte sich Bruder Gregory einen Weg durch die Lastesel, die Berittenen und die Kaufleute auf der Thames Street und folgte auf der Suche nach Roger Kendalls Haus den Windungen der Straße längs des Flußufers. An dieser Straße ließen sich vorzugsweise Kaufleute nieder, die mit Gütern aus dem Ausland handelten: Ein paar Türen weiter machte Bruder Gregory das Haus eines bekannten Weinhändlers aus. Dann stand er einen Augenblick vor dem eindrucksvollen, dreistöckigen Haus still, welches die richtige Adresse zu sein schien, und musterte es von oben bis unten. Auf der Vorderseite kreuzte sich kunstvoll geschnitztes und in leuchtenden Farben bemaltes Ständerwerk, und von den Ecken, wo die Balken aufeinandertrafen, starrten wunderlich geschnitzte und vergoldete Engel- und Tiergesichter herab, während sich unter dem hohen, spitzen Dachvorsprung längs der Traufe gemalte Eulengesichter verbargen. Die bleiernen Dachrinnen am Ende des Dachvorsprungs waren mit einem Paar eigenartig geformter Wasserspeier aus Blei geziert, aus deren offenen Mäulern der Regen abfließen

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