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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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fiel auf die Zigarrenkiste, die sie auf dem Tischchen abgestellt hatte. Sie öffnete sie: Die vier Hefte von Oriol Fontelles. Inmitten ihres Kummers erinnerte sich Tina an Oriols Worte: Geliebte Tochter, mein Brief ist wie das Licht eines Sterns, der vielleicht längst erloschen ist, wenn Dich sein Strahl erreicht. Es ist so wichtig, gegen den Tod anzuschreiben; es ist so grausam, zu schreiben, wenn der Tod Dir keine Hoffnung läßt. Während sie auf Jordi wartete, verstand sie, daß Oriol Fontelles so verzweifelt geschrieben hatte, damit der Tod nicht das letzte Wort behielt.
    Doktor Schiwago horchte auf, er hörte Jordi immer schon lange, bevor dieser auf dem Treppenabsatz ankam. Er sprang von Tinas Schoß und lief zur Tür. Schuldbewußt schielte er mit aufgerichtetem Schwanz zu Tina hinüber, wie um zu sagen, Jordi kommt nach Hause, was soll ich machen, und setzte sich an die Tür. Tina dachte, wenn wir uns nur so lieben würden, wie Juri Andrejewitsch uns liebt!
    »Hallo Juri«, sagte Jordi, als er hereinkam, und Doktor Schiwago rieb sich schweigend an seinen Hosenbeinen.Dann erblickte Jordi Tina im Sessel und bemerkte ihren seltsamen Gesichtsausdruck. »Was gibt’s zum Essen?«
    »Ich habe nichts gemacht. Wie war’s?«
    »Gut.« Er seufzte. »Ich bin erledigt.«
    Er hängte seine Jacke an die Garderobe, ging zu seiner Frau und strich ihr übers Haar. Seine Liebkosung ließ Tina schaudern. Jordi setzte sich in Doktor Schiwagos Sessel, und dieser ließ sich auf seinen Knien nieder.
    Jordi, ich habe herausgefunden, daß du mich betrügst; dienstags triffst du dich nicht etwa mit einer Gruppe von Kollegen, sondern mit einer Frau in der Pension von Ainet, ich weiß alles, du brauchst mir nicht länger etwas vorzumachen, wer ist diese Frau? Warum belügst du mich?
    »Ich mache uns was zu essen. Es ist noch Suppe von heute mittag übrig.«
    »Wunderbar«, sagte Jordi, streichelte Doktor Schiwagos weichen Rücken und schloß entspannt die Augen. Als er bemerkte, daß Tina nicht aufstand, öffnete er sie wieder und schlug vor: »Wenn du willst, mache ich uns ein paar Spiegeleier.«
    »In Ordnung.«
    Immer war alles in Ordnung gewesen zwischen Tina und Jordi. Sie wartete, bis Jordi in der Küche beschäftigt war, blieb aber sitzen und sah an die Wand, weil sie sich ihrer Frage schämte.
    »Wie war die Konferenz?«
    »So lala; Ròdenes war krank.«
    »Müßt ihr sie wiederholen?»
    »Wahrscheinlich.«
    Elender Heuchler, kommst mir mit der schäbigsten aller Lügen, der üblichen einfallslosen Geschichte, die alle Männer ihren Frauen auftischen, wie ekelhaft, ich dachte, uns würde so etwas nie passieren.
    »Habt ihr was gegessen?«
    »Ja, eine Kleinigkeit.«
    Tina stand auf und ging in die Küche. Sie lehnte sich andie Küchentür, bot ihm aber nicht an zu helfen und sah ihn nicht an.
    »Wie viele wart ihr?«
    »Sechs oder sieben. Immerhin.«
    Lügner. Sechs oder sieben. Zwei: du und sie, eine Konferenz im Bett. Wahrscheinlich habt ihr über die Unterrichtsreform geredet, während sie die Beine breit gemacht hat und du ihr die Brüste gestreichelt hast, wie du es bei mir machst. Wie du es bei mir gemacht hast. Wer ist sie?
    Sie aßen schweigend. Ausgeschlossen, daß Jordi dieses Schweigen nicht verstand, mußte sie noch deutlicher werden?
    »Ich gehe ins Bett«, sagte sie statt dessen.
    Du bist der Feigling, traust dich nicht, etwas so Einfaches zu fragen wie: warum betrügst du mich, Jordi, du Mistkerl, und dann diese krankhafte Neugier: mit wem, um vergleichen zu können:Was hat sie, was ich nicht habe, was ich nie haben werde, ist sie jünger, älter, sicher ist sie schlanker als ich, kenne ich sie, oder habe ich sie noch nie gesehen?
    »Ich auch«, sagte Jordi.
    Dusch wenigstens, du Schwein. Jetzt sollte ich dir sagen, daß du in diesem Bett nichts mehr verloren hast.
    Aber Tina sagte nichts. Sie sah zu, wie Jordi zu Bett ging, und nach zehn Minuten atmete er tief und gleichmäßig, guten Gewissens, während sie mit weit offenen Augen dalag und nicht glauben konnte, daß das ihnen passierte. Erst um halb vier schlief sie ein, und dann hatte sie schreckliche Träume.
    »Was hast du gerade gesagt, Sergi?«
    »Ich kann Hongkong nicht finden.«
    Hongkong. Sergi Rovira kann auf der Asienkarte Hongkong nicht finden. Das ist wichtig: zu wissen, wo Hongkong liegt. Jetzt, wo sie ihnen gerade von China erzählt hat, ist es inakzeptabel, daß Sergi Rovira Hongkong in Japan sucht. Wo war der Junge nur mit seinen Gedanken?

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