Die Stimmen des Flusses
herauszufinden, wer zum Teufel noch mal diese Frau war.
»Ich kann Hongkong nirgendwo finden.«
Zu Hause angekommen, hatte sie ihre Tasche und ihre Schlüssel in die Ecke geworfen und sich in den Sessel fallen lassen, wo sie schweigend vor sich hin starrte, wie Doktor Schiwago, und grübelte: Und ich dachte, ich wäre nicht eifersüchtig. Und ich dachte, wir wollten immer ehrlich zueinander sein. Und ich dachte … Nein: Das Demütigendste daran ist, daß er mich so geringschätzt, daß er mich hintergeht und belügt, daß er es heimlich tut.
»Hätte er es etwa in aller Öffentlichkeit machen sollen?« mischte sich Doktor Schiwago ein und gähnte. »Das wäre erst recht demütigend gewesen.«
»Dich hat niemand um deine Meinung gebeten, Juri Andrejewitsch.«
Doktor Schiwago hörte auf zu gähnen, streckte sich, sprang geschmeidig von seinem Sessel auf Tinas Knie, ohne jedoch seine würdevolle Haltung zu verlieren, und rollte sich dort zusammen. Tina kraulte ihn hinter den Ohren, an seiner Lieblingsstelle, und dachte nach. Sie hatte sich vorgenommen, Jordi zur Rede zu stellen, sobald er nach Hause kam:Wer ist sie, wie lange läuft das jetzt schon mit euch beiden, was hat sie, was ich nicht habe, warum tust du mir das an, liebst du mich denn nicht mehr, weißt du nicht, daß ich dich noch liebe, warum betrügst du mich, hast du vielleicht auch mal anunseren Sohn gedacht, ich will die Scheidung, ich will dich umbringen, du Mistkerl, du hast mir doch Treue geschworen, weißt du überhaupt, was Treue bedeutet? Sie bedeutet, daß man an den anderen glaubt, daß man zu ihm steht, und du stehst nicht mehr zu mir, weil du nicht an mich glaubst, weil du mir nicht erzählst, was los ist, und wenn du dazu zu feige bist, warum schreibst du mir dann nicht einfach einen Brief, Briefe sind wie das Licht der Sterne, Jordi, wußtest du das? Ich glaube, du verdienst es gar nicht zu wissen. Was ist anders zwischen uns beiden, wann genau hat das angefangen, wer ist schuld daran, was habe ich falsch gemacht, Jordi, daß du dich heimlich mit Maite triffst, falls es Maite ist, oder mit Bego oder Joana oder irgendeiner Frau, die ich nicht kenne. Wer ist die Frau, die meinen Platz einnimmt, Jordi? Eine Schulkollegin? Und Jordi würde sie mit offenem Mund anstarren, entsetzt darüber, daß sie alles wußte, denn das paßte nicht in seinen miesen Plan. Und dann würde er in Tränen ausbrechen und sie um Verzeihung bitten, und sie würde versuchen, diese schlimme Zeit zu vergessen. Es würde nicht leicht werden, aber zum Glück war es nur eine Episode, und sie wollte positiv denken und stets nach vorn blicken. Und die Strafe? Wie konnte sie ihn bestrafen?
Tina überlegte, ob sie das Abendessen machen oder lieber auf Jordi warten sollte, der in einer Lehrerkonferenz saß. Jordi und Maite, der Intellektuelle und die Schulleiterin, ein hübsches Paar verlogener Ehebrecher, die nach der Konferenz herumtrödeln würden, bis sie alleine im dunklen Gebäude zurückblieben. Wenn sie bei Jordis Rückkehr mit Kochen beschäftigt wäre, würde sie nicht den Mut finden, ihm all das ins Gesicht zu sagen, was sie sich vorgenommen hatte, denn über so etwas konnte man in der Küche nicht reden, das war ein Gespräch fürs Wohnzimmer. Sie würden sich setzen, und dann würde sie sagen, Jordi, ich weiß alles, du belügst mich, du betrügst mich mit einer anderen, ihr trefft euch jede Woche in der Pension von Ainet, du hast mich enttäuscht, ich bin so traurig, daß ich heulen könnte; dabei bin ich dochnoch eine attraktive Frau, na gut, ich habe drei Kilo zuviel auf den Hüften, aber sonst habe ich mich doch gut gehalten, siehst du das nicht? Du bist derjenige, der langsam Fett ansetzt, aber mir gefällst du auch mit Bauch; warum tust du mir das an, warum betrügst du mich, hatten wir nicht ausgemacht, immer ehrlich zueinander zu sein, Jordi? Ja, ein solches Gespräch führte man besser im Wohnzimmer als in der Küche, und sie fuhr fort, Doktor Schiwagos Kopf zu kraulen, und dachte unwillkürlich, jetzt sind die beiden sicher schon allein in der Schule; alle anderen wollen so schnell wie möglich nach Hause. Warum ist er sonst noch nicht zurück? Bestimmt ist es Maite. Mit wem betrügst du mich, Jordi? Kenne ich sie? Wenn es Maite ist, kann sie sich auf was gefaßt machen.
Nach einer Viertelstunde bekam sie Hunger, aber sie wollte nicht aufstehen, sie wollte an dieser Stelle auf Jordi warten, um die dunklen Punkte in ihrem Leben zu klären. Ihr Blick
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