Die Stimmen des Flusses
Woran hatte er wohl gedacht, als sie ihnen erklärte, daß Hongkong bis vorkurzem zu Großbritannien gehört hatte und jetzt unter dem Motto »ein Land, zwei Systeme« zu China gehörte, und wie konnte man glücklich sein, wenn man betrogen wird, wenn alle Träume zerstört werden, wußtest du nicht, daß alle Träume irgendwann einmal platzen?
»Warum weinen Sie denn?«
Ein wenig erschrocken schneuzte sie sich und sagte: »Es ist nichts. Ist euch das noch nie passiert, daß euch die Augen jucken und zu tränen anfangen?«
»Beim Zwiebelschneiden ist mir das schon mal passiert.«
»Mir auch.«
»Und mir.«
»Genau, Alba, sehr gut. Also, bei mir ist das so, als hätte ich die ganze Nacht ganz viele Zwiebeln geschnitten.«
In der großen Pause rief Maite sie zu sich in die Bibliothek und zeigte ihr die Ausstellungsobjekte. In einer Ecke katalogisierte Joana die Bücher und alle Schulmaterialien, die ausgestellt werden sollten, von einem Radiergummi der Marke Ebro bis hin zu einem rosafarbenen Alpino-Bleistift. Maite nahm ein vergilbtes Buch zur Hand.
»Das sind die Bücher, die du aus Torena mitgebracht hast«, sagte Joana, ohne den Kopf zu heben, »sie sind phantastisch. Von zweiundvierzig und fünfundvierzig.«
»Tina hat sie mitgebracht.«
Tina fiel auf, daß sie schon seit Stunden nicht mehr an Oriol Fontelles und seine Hefte gedacht hatte.
»Du solltest Jordi überreden, bei der Ausstellungseröffnung ein paar Worte zu sagen«, sagte Maite.
»Du bist doch die Schulleiterin.«
»Aber ich kann vor Leuten nicht reden.«
Konnte es Maite sein? Die treue Freundin, die tüchtige Schulleiterin, die keine Skrupel kennt, wenn es ums Vögeln geht? Und nun bat sie Tina, Jordi zu überreden … Wie verlogen manche Leute doch sind.
Sie sah Maite in die Augen, und diese erwiderte ihren Blick mit einem offenen Lächeln. Konnte sie so kalt, sozynisch sein? Maite legte das Buch auf den Tisch zurück und wischte sich den Staub von den Fingern.
»Na, was nun? Kannst du ihn überreden?«
Und wenn es nicht Maite war, sondern eine Frau, die sie nicht kannte?
»Ich kann es dir nicht versprechen, Maite.«
»Er tut immer, was du sagst.«
Nachts um halb drei war Tina noch immer hellwach. Sie wußte nicht, wie sie neben ihrem verlogenen Mann einschlafen sollte, und so stand sie auf. Ihr Kummer würde sie sowieso nicht zur Ruhe kommen lassen. Auf Zehenspitzen schlich sie in die Dunkelkammer. Zum ersten Mal, seit sie unter Jordis offenem Beifall und Arnaus Schweigen die Gästetoilette zweckentfremdet hatte, schloß sie die Tür ab. Allmählich fühlte sie sich wie eine Fremde im eigenen Haus. Mit zitternden Händen machte sie sich an die Arbeit. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, konnte sie wenigstens tun, was sie vorhatte.
Als sie die Abzüge zum Trocknen aufhängte, sah sie, daß das Teleobjektiv nichts genutzt hatte. Auf allen Fotos war Jordi zu erkennen. Er kam aus der Pension, sah geradeaus, hielt die Frau an der Hüfte oder an der Schulter und sagte etwas zu ihr. Aber das Gesicht der Frau war unter der Kapuze ihres Anoraks nicht zu erkennen. Sie hätte den Blitz nehmen müssen, aber dann hätten die beiden sie und den 2CV bemerkt, ihre schäbige Schnüffelei, und gleich wäre Jordi auf sie zugegangen und hätte gesagt, es ist nicht, was du denkst, Tina, wirklich nicht, die Konferenz war früher zu Ende, und wir waren noch was trinken. Kennst du sie? Soll ich sie dir vorstellen?
»Er tut immer, was du sagst«, hatte Maite gesagt, die falsche Schlange.
So sahen die Leute das also. Da täuschten sie sich aber gewaltig.
Joana fiel ein Buch herunter. Sie hob es auf, wischte es ab und sah Tina an: »Maite sagt, du hast die alte Schule von Torena fotografiert.«
»Ja. Ich bin noch nicht dazu gekommen, die Bilder zu entwickeln, und schon gibt es die Schule nicht mehr.«
»Irgendwie seltsam, oder?«
»Ja. Tempus fugit , und zwar wie im Flug.«
»Könntest du für die Ausstellung einen Abzug vorbeibringen?«
»Ja, natürlich. Wir könnten das Gebäude vorher und nachher zeigen.«
Und wenn Joana die Frau war, die sich auf dem dunklen Foto verbarg? Die diskrete, ernsthafte Sekretärin, stets bereit, eine Nummer zu schieben. Möglich wär’s. Mein Gott, ich drehe noch durch, wenn ich es nicht ein bißchen gelassener nehme, ich bin eifersüchtig, ich bin wütend, und ich fühle mich erniedrigt und beschmutzt, ich kann nicht schlafen und denke pausenlos darüber nach, was ich falsch gemacht habe, daß Jordi, der
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