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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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anständige, treue Jordi, mich so verraten hat. Nein, Joana nicht: Dora oder Carme. Vielleicht Pilar. Oder Agnès, die alte … Ach, ich weiß nicht. Carme, die den ganzen Tag zweideutige Bemerkungen macht wie ein Mann. Nein, Dora, die ist so jung … Aber ich glaube, Dora ist zu klein. Was weiß ich …
    »Sagen Sie mir jetzt, wo Hongkong ist? Sie hören mir ja gar nicht zu!«
    » Il faut tenter de vivre «, erwiderte sie. Die Kinder blickten einander fragend an und lachten verlegen. Sie sah sie an wie aus weiter Ferne. » Le vent se lève «, fügte sie hinzu.
    »Sie hören mir nicht zu.«

4
    Der majestätische Shanghai-Expreß stand abfahrbereit im Bahnhof. Mühsam setzte sich das Gestänge in Bewegung, und die schwere Lok mit den beiden Luxuswaggons zog an.
    Zur selben Zeit nahm Senyora Elisenda die Kette mit dem Kreuz ab, legte sie ins Elfenbeinkästchen und öffnete die Hintertür. Verstohlen betrat Quique den Flur, und Bibiana, die alle Geheimnisse des Hauses kannte, machte sich einen Kamillentee und dachte traurig, das arme Kind.
    Quique spürte, wie ihm die Kehle eng wurde, weil Elisenda das lange schwarze Kleid trug, das ihm so gut gefiel. Ihm wurde die Kehle eng, weil Elisenda seine romantischen Anwandlungen stets mit nüchternen Anweisungen im Keim erstickte: »Verlier jetzt nicht den Kopf und bilde dir bloß nichts ein. Du bist hier, um mich zu vögeln, und das war’s. Also besorg’s mir, denn dafür wirst du bezahlt.« Das tat weh, aber es stimmte, sie zahlte gut, sehr gut. Elisenda zog das lange Kleid aus, machte die Beine breit und gab sich ihm hin, als habe sie es eilig, als müßten sie ein lästiges Ritual vollziehen. In keiner dieser sündigen Nächte hatte Quique ihr ein Lächeln abringen können. Nie. Allerdings entlockte er ihr so leidenschaftliche Schreie, daß er sich für einen großartigen Liebhaber hielt, weil er nicht die Wut erkannte, die in diesen Schreien lag. Er wußte nichts von dem, was geschehen war und wie es geschehen war. Er wußte nicht, daß Senyora Elisenda sich unzählige Male gewünscht hatte, ihr Leben könnte sich von dem Tag an wiederholen, an dem sie nach Burgos geflohen war, in Begleitung von Bibiana, die sich weigerte, sie alleine reisen zu lassen, und mit einem Koffer voller Rachegedanken.
    »Bist du gekommen?«
    »Nein, heute nicht.«
    »Na, so was.«
    Es war das erste Mal, daß Quique nicht zum Zuge kam. Dabei funktionierte er sonst so zuverlässig wie eine Maschine, die alle in sie gesetzten Erwartungen erfüllte.
    Der Shanghai-Expreß setzte seinen Weg fort, fuhr durch Felder, über eine Brücke, ein Meisterwerk britischer Ingenieurskunst, über einen reißenden Fluß und hinein in einen dunklen Tunnel, wo sein triumphierendes Pfeifen dumpf und leise klang.
    »Ich weiß auch nicht, was los ist …«, sagte Quique beschämt. Ungewohnt zärtlich gestimmt, nahm sie sein Glied, ließ es geschickt wieder aufleben und verschaffte dem Jungen eine anständige Ejakulation. Zum Dank dafür schenkte Quique ihr einen weiteren Orgasmus, und sie dachte an ihren unerreichbaren Geliebten und schrie laut, nicht aus Lust, sondern aus Wut, und Bibiana, die in ihrem Zimmer saß und Kamillentee trank, bekreuzigte sich und dachte, das arme Mädchen, so schön, so reich und so traurig, sie vermißt ihn immer noch, denn sie, die ihren eigenen Schmerz abgelegt hatte, um den Schmerz des Kindes aufnehmen zu können, verstand Senyora Elisenda Vilabrús Leid sehr wohl.
    Senyora Elisenda schrie, und im gleichen Augenblick fuhr der Shanghai-Expreß viel zu schnell in die Kurve. Es war die Kurve am Fenster. Die Lok entgleiste, kippte gegen die verschneiten Tannen, von denen eine durch die Luft wirbelte wie ein Zahnstocher. Die beiden Luxuswaggons lagen auf den Schienen quer, das eine oder andere Rad drehte sich noch. Marcel unternahm nichts zur Rettung der Lage. Natürlich sah er, daß seine Lieblingslokomotive aus den Schienen gesprungen war; aber er war damit beschäftigt, zu masturbieren, mit Tränen in den Augen, weil er nicht verstand, was diese Schreie waren, die ihn an eine Katze auf dem Dach erinnerten. Hätte Senyora Elisenda gewußt, daß das Haus so hellhörig war, daß die Schreie aus ihrem Zimmer bis aufden Dachboden drangen, hätte sie es sich zweimal überlegt, bevor sie dort oben alles für den Jungen herrichten ließ, die Spielzeugeisenbahn, den Plattenspieler, Platz für Skier und Skistiefel und eine Pritsche, falls ein Freund zum Übernachten kam.
    »Vom Internat wird

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