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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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keiner kommen, und die aus dem Dorf brauchen nicht hier zu übernachten.«
    »Willst du das Bett nicht?«
    »Glaubst du vielleicht, daß Xavi Burés hier übernachten wird, wo er doch gleich gegenüber wohnt?«
    Sie hatte den Dachboden ausbauen lassen, um Marcel über den plötzlichen Tod seines Vaters hinwegzutrösten.
    »Mamà, ich will nicht in die Schule gehen.«
    »Darüber haben wir doch schon oft genug geredet.«
    »Es ist scheiße dort. Ich will hier leben.«
    »Dir gehört der Mund mit Seife ausgewaschen. Nirgendwo bekommst du eine bessere Erziehung als im Internat.«
    »Ich könnte in Torena zur Schule gehen.«
    »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ende der Diskussion. Und wenn du zu Hause bist, hast du den ganzen Dachboden für dich.«
    Quique zog sich rasch an, das schroffe Ende ihrer Begegnungen war ihm unangenehm. Sie brachte ihn zur Hintertür, und als sie allein war, setzte sie sich im Nachthemd ins Wohnzimmer, das Elfenbeinkästchen in der Hand, und weinte. Es war erniedrigend. Wie zum Hohn kamen ihr Mutter Venàncias Ermahnungen in den Sinn: Die Reinheit ist das höchste Gut einer Frau, Senyoreta Elisenda Vilabrú. Eine Eins in Rechnen, eine Eins in Grammatik, eine Eins in Erdkunde, eine Eins in Latein und eine Sechs in Reinheit, Mutter Venància, und alles wegen des Unglücks.
    »Im allgemeinen sind die fleischlichen Gelüste der Frau weniger stark ausgeprägt.«
    »Ich glaube, auf das Fleischliche könnte ich verzichten, Pater.«
    »Nun, das verstehe ich nicht.« Der Beichtvaterverstummte ratlos. Eine Straßenbahn fuhr quietschend die Straße hinauf, und die beiden im Beichtstuhl schwiegen eine Zeitlang.
    »Ich weiß nicht. Es ist ein Bedürfnis … Ich will beweisen, daß … Ach, es ist egal.«
    »Nein, meine Tochter, sprich nur.«
    »Nein, es ist nichts.«
    »Warum heiratest du nicht wieder?«
    »Nein. Nie mehr. Ich hatte eine große Liebe und habe mir geschworen, nie wieder zu heiraten.«
    »Und warum bist du dann mit Männern zusammen?«
    »Aus Wut.«
    Die nächste Straßenbahn fuhr vorüber. Der Beichtvater strich sich mit der Hand über die stoppelige Wange. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Schließlich wiederholte er: »Ich verstehe dich nicht, meine Tochter.«
    »Ich wünschte, alles wäre anders gekommen.«
    »Ja …« Langes, nachdenkliches Schweigen. »Hast du jemals über die christliche Tugend der Ergebung nachgedacht?«
    »Können Sie mir die Absolution erteilen, Pater?«
    Bevor sie zu Bett ging, obwohl sie hellwach war, strich sie in Erinnerung an alten Haß und alte Liebe noch einmal über die Fotos auf der Kommode. Dann löschte sie das Licht im Wohnzimmer. Durch die Ritzen der Jalousie drang ein dünner Streifen eisigen Mondlichts.
    Bibiana, die Gedanken lesen konnte, seit sie ganz in der Seele ihrer Herrin aufgegangen war, trank den letzten Schluck ihres traurigen Kamillentees und löschte ebenfalls das Licht.

    »Weißt du was, Sohn? Bei den Friedhöfen in kleinen Dörfern muß ich immer an Familienfotos denken: Alle kennen sich, alle halten still, einer neben dem anderen für alle Ewigkeit, jeder hat den Blick auf seinen Traum gerichtet. Und der Haß ist ganz verwirrt von soviel Stille. Und glaub bloß nicht, daß ich diesen Grabstein gerne gemeißelt habe, und wenn er hundertmal dein Lehrer war. Ich mach nicht gern was zur Erinnerung an einen Mörder. Manchmal müssen wir eben Dinge tun, die uns nicht gefallen, und das hier ist so was: Er starb den Heldentod für Gott und Vaterland und war an einem Verbrechen beteiligt, das wir nie vergessen werden. Ist alles schön in der Mitte?«
    »Ja.«
    »Siehst du, hier meißle ich einen Nagelkopf ein.«
    »Einen in jede Ecke.«
    »Sehr gut, Junge, bald hab ich dir alles beigebracht. Der Lehrer verdient soviel Mühe gar nicht, aber ich kann nun mal meine Arbeit nicht schlecht machen.«
    »Darf ich ihn polieren,Vater?«
    »Verdammter Lehrer, du warst schlimmer als Senyor Valentí, der verstellt sich wenigstens nicht. Denk nicht weiter an ihn, Jaumet, das hat er nicht verdient. Und erzähl bloß keinem weiter, was ich dir gesagt hab. Amen.«

Zweiter Teil
Namen, hingestreckt

Talitha kumi!
Markus 5, 41
    Wäre heute nicht ein ganz besonderer Tag, hätte Hochwürden Rella das halbe Dutzend seiner Schäfchen zum Teufel gejagt, das die ganze Fahrt über, während der zweitägigen Besichtigung Roms und selbst am Festtag, an der Organisation herumgemäkelt hatte, und das hieß, an den Organisatoren, was wiederum hieß, am Herrn Bischof,

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