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Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses

Titel: Die Stimmen des Flusses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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ursprünglichen Namen Carrer del Mig wiedererhalten hatte. Im Rathaus fragte sie nach den Schlüsseln für die Schule, und man sagte ihr, sie seien nicht mehr da, die Bauarbeiter seien schon an der Arbeit, und als sie vor dem Gebäude hielt, dem letzten des Dorfes, dort, wo der Weg zum Triador hinaufführte, sah sie, daß die Arbeiter bereits dabei waren, das Schieferdach Platte für Platte abzudecken. Spontan griff sie nach ihrer kleinen Kamera, der mit dem lichtempfindlichen Film, und machte im diffusen Licht des Nachmittags drei Aufnahmen, wobei sie darauf achtete, daß die auf dem Dach beschäftigten Bauarbeiter nicht ins Bild kamen. Vielleicht konnte sie eines der Fotos für das Buch verwenden. Zum Glück hatten die Arbeiter auf der Seite angefangen, wo die Toiletten lagen. So hatte sie Zeit, die beiden Schränke im Klassenzimmer zu durchstöbern, machte sich die Hände an dem schmierigenschwarzen Staub vieler Jahre schmutzig, sortierte Stapel von nutzlosen Papieren aus, rettete ein Dutzend Bücher, die in pädagogischer Hinsicht vorsintflutlich waren, aber für die Ausstellung durchaus ihren Reiz hatten, und lauschte dem dröhnenden Hämmern der Bauarbeiter, die drauf und dran waren, das Gebäude dem Erdboden gleichzumachen. Was sie an brauchbarem Material fand, paßte problemlos in den Pappkarton, den sie aus Sort mitgebracht hatte. Eine ganze Weile stand sie am Fenster, sah in die Ferne und überlegte sich, ob das, was sie anschließend vorhatte, nicht eigentlich unter ihrer Würde lag. Wahrscheinlich schon, aber Jordi ließ ihr keine Wahl. Sie starrte gedankenverloren vor sich hin: Nein, sie hatte keine andere Wahl. Weil Jordi nun mal war, wie er war, und Arnau ebenfalls. Weil weder ihr Mann noch ihr Sohn zu Hause etwas erzählten, weil sie so verschlossen waren, weil Arnau ihr von Tag zu Tag fremder wurde, nächtelang wegblieb und sich nur sehr vage darüber ausließ, mit wem er sich herumgetrieben hatte. Lange hing sie ihren düsteren Gedanken nach, und schließlich blickte sie sich um und fand sich in der verlassenen Schule von Torena wieder. Sie bemühte sich, die beiden vorerst aus ihren Gedanken zu verbannen, vor allem Jordi. So kam sie auf die Idee, die Schubladen des Lehrerpults zu durchwühlen. In der ersten fanden sich außer einem Schwall unsichtbarer Erinnerungen, die sich verflüchtigten, sobald sie die Schublade öffnete, nur die Späne eines vor langer Zeit gespitzten Bleistifts. In den anderen beiden war gar nichts, nicht einmal Erinnerungen. Hinter den schmutzigen Scheiben ging langsam der Tag zur Neige, und plötzlich wurde ihr bewußt, daß die Hammerschläge schon lange verstummt waren.
    An der Tafel lag ein angefangenes Stück Kreide. Sie nahm es in die Hand und konnte der Versuchung nicht widerstehen, es zu benutzen; mit ihrer klaren Lehrerinnenhandschrift schrieb sie das Datum an die Tafel: Mittwoch, 12. Dezember 2001. Dann wandte sie sich um, als säßen Schüler an den wurmstichigen Pulten, denen sie den Lehrstoff des heutigenTages erklären sollte, erstarrte jedoch mit offenem Mund, als sie ganz hinten in der Tür einen unrasierten Bauarbeiter mit einer Zigarette im Mundwinkel gewahrte. Er hielt eine Zigarrenkiste in der einen Hand und eine Campinggaslampe in der anderen und war ebenfalls verblüfft stehengeblieben, fing sich aber als erster und ging auf sie zu:
    »Fräulein … wir machen Feierabend, es wird zu dunkel. Bringen Sie den Schlüssel zurück?«
    An seinen weiß bestaubten Jeans baumelte ein Schlüsselbund, und Tina erschien er wie ein Schüler, der ihr sein Aufgabenheft brachte. Es kam ihr vor, als wäre sie ihr ganzes Leben lang Lehrerin an dieser Schule gewesen. Der Bauarbeiter stellte die Zigarrenkiste auf das Pult.
    »Die haben wir hinter der Tafel gefunden.«
    »Hinter dieser Tafel?«
    Der Bauarbeiter trat an die Tafel. Sie sah aus, als wäre sie in die Wand eingelassen, ließ sich aber verschieben. Kreischend rückte sie etwa zwei Handbreit zur Seite und gab eine kleine dunkle Höhlung frei. Der Bauarbeiter hob die Lampe.
    »Hier drin.«
    »Wie ein Piratenschatz.«
    Der Bauarbeiter schob die Tafel an ihren Platz zurück.
    »Es sind Schulhefte«, sagte er und klopfte zweimal auf die gut erhaltene Zigarrenkiste, die mit einer schwarzen Kordel verschnürt war.
    »Darf ich sie behalten?«
    »Eigentlich wollte ich sie wegwerfen.«
    »Und könnten Sie mir die Gaslampe dalassen?«
    »Passen Sie auf, wenn Sie hierbleiben, frieren Sie sich zu Tode.« Er gab ihr die

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