Die strahlenden Hände
Wolke umgab sie wieder. Dr. Zimmerli funkelte Corinna böse an. Mit der Spritze in der Hand fuchtelte er herum.
»Ich wiederhole: Hier kann es ein Notfall sein! Wenn Sie mich in der Ausübung meiner ärztlichen Tätigkeit behindern …«
»Hier brauche ich keinen Arzt.« Corinna holte tief Atem. Es geht um dich, Svetla, um dein Leben. Ich muß es jetzt sagen. Es gibt keinen anderen Ausweg. Sie blickte auf Dr. Zimmerli hinunter, der trotz ihres Protestes seine Injektion aufzog. »Svetlanas Gelbsucht ist ein hepatischer Ikterus.«
Dr. Zimmerli ließ fassungslos die Spritze sinken. »Was bitte?«
»Ein parenchymatöser Ikterus durch eine akute Hepatitis.«
»Ja, das gibt's doch nicht. Woher wollen Sie das denn wissen?!«
»Ich fühle es. Ich sehe es! Seit zwei Stunden weiß ich es genau.«
Dr. Zimmerli legte die aufgezogene Spritze vorsichtig in den Chromkasten zurück. Er blickte Corinna dabei nicht mehr an. »Was heißt das: Ich fühle es. Ich sehe es?«
»Ich fühle und sehe es mit meinen Händen.«
»Also doch!« Dr. Zimmerli klappte den Chromkasten zu. »Sie sind es tatsächlich. Beim ersten Besuch bei Ihnen war ich mir nicht ganz sicher. Woher kennst du sie, habe ich mich gefragt. Irgendwo habe ich sie schon gesehen! Wo ist dir diese Frau schon mal begegnet? Ich habe keine Antwort gefunden. Jetzt weiß ich es wieder: Im Fernsehen habe ich Sie gesehen. Die Zeitschriften und Zeitungen waren voll von Ihnen. Die Wunderheilerin in Deutschland. Die große Sensation. Wie nannte man Sie? Die ›Strahlenden Hände‹ … ist es so? Krebsheilungen durch Streicheln. Sie sind das also!«
»Ja.« Corinna preßte Svetlana an sich, als wolle Dr. Zimmerli sie ihr entreißen. Die Kleine weinte leise vor sich hin. »Verstehen wir uns jetzt?«
»Nein. Ganz und gar nicht!« Dr. Zimmerli erhob sich steif. Sie sahen sich an, und mit diesem Blick wußte Corinna, daß der Kampf wieder begonnen hatte. Ihre sogenannte Wunderkraft gegen die Schulmedizin. »Svetlana kommt in das Spital!«
»Nein. Ich behandele sie selbst!«
»Wenn es wirklich ein parenchymatöser Ikterus ist, muß sie ins Spital!«
»Sie wird bei mir in spätestens einer Woche gesund sein.«
»Irrsinn! Frau Herbert, Sie begehen ein Verbrechen an Ihrem Kind!«
Dr. Zimmerli platzte die Geduld. Er schrie Corinna an, und weil er jetzt im Dialekt des Schweizer Tales schimpfte, verstand sie kein Wort. Sie nahm nur die Gelegenheit wahr, als Zimmerli Luft holen mußte, laut zu sagen:
»Es wäre gut, wenn Sie jetzt gehen würden, Herr Doktor. Sie haben sicherlich noch andere Patienten, die Sie dringender brauchen.«
Wortlos packte Dr. Zimmerli seinen Arztkoffer zusammen und verließ das Haus. Sein Geländewagen heulte auf, als er davonbrauste. Vom Atelier kam Marius herüber und zeigte auf das talabwärts hüpfende Auto. »Was ist denn mit dem los?«
»Ich habe ihn rausgeworfen.«
»Um Gottes willen! Und nun? Was ist mit Svetla?«
»Er wollte sie ins Spital bringen lassen.«
»Wenn es nötig ist, Cora!« rief Marius entsetzt.
»Ich werde Svetla selbst behandeln. Das habe ich ihm gesagt.«
»Du hast ihm gesagt …« Marius wischte sich mit beiden Händen verzweifelt über das Gesicht. »Cora, was hast du da getan … Jetzt beginnt alles von vorn. Jetzt wird auch hier die Hölle losbrechen.«
Die Hölle brach nicht los. Aber vier Stunden später klingelte es wieder an der Haustür. Marius öffnete. Draußen stand ein Wagen des Bezirksspitals mit zwei weiß gekleideten Sanitätern. Dr. Zimmerli nickte Marius wortlos zu. Und vor allen hatte sich ein Gendarm aufgebaut und hob grüßend die Hand an die Mütze.
Marius drehte sich sofort um, ließ die Tür offen und rannte ins Wohnzimmer. »Sie sind da!« rief er mit rauher Stimme. »Sie wollen Svetla holen!«
Mit einem katzenhaften Satz schnellte Cora hoch. Betroffen über das, was er sah, nicht begreifend, starrte er sie an. Er kannte sie nicht mehr wieder, sie war eine völlig fremde Frau … das wunderschöne Gesicht war eine schrecklich verzerrte Fratze, in der die Augen funkelten, gleich einem lodernden Wahnsinnsfeuer. Wie eine Katze sprang sie auch aus dem Zimmer, prallte gegen die Schlafzimmertür und blieb dort angespannt und wie zum Sprung bereit stehen. Ihre Finger spreizten sich wie Krallen.
Dr. Zimmerli und der Gendarm, die in der Diele standen, wechselten einen verständigenden Blick. Sie gingen nicht weiter; Corinnas Haltung warnte sie. Man sah Dr. Zimmerli an, daß ihm die ganze Situation nicht nur
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