Das peinlichste Jahr meines Lebens
Umgang mit Gefühlen, 1 . Stunde
In den letzten drei Wochen hatte ich zehn schlimme Erlebnisse, die dazu geführt haben, dass ich jetzt hier sitze.
Meine Eltern hatten beschlossen, keine Kleidung mehr zu tragen.
Als Punkt 1 aus dem Ruder lief, schlossen sie sich einer Gruppe an, die man nur als Terrorgruppe bezeichnen kann, überfielen einen Fackelumzug und stellten mich vor der ganzen Stadt bloß.
Mein idiotischer Bruder nahm mir das traumhafteste Mädchen der Welt weg und stürzte sie ins Unglück.
Ich habe der Freundin meines Bruders (aus Versehen) ein blaues Auge verpasst.
Ich wurde beschuldigt, der Freundin meines Bruders nachzustellen (ein Missverständnis).
Wegen Punkt 1 wurde meine Mum letzten Dienstag verhaftet und verbrachte eine Nacht im Gefängnis (leider handelte es sich bei besagtem Vorfall weder um ein Versehen noch um ein Missverständnis).
Mein Bruder rächte sich für Punkt 4 und 5 auf typisch heimtückische, hinterhältige Weise.
Wegen Punkt 7 beleidigte ich unwissentlich den Bürgermeister einer französischen Kleinstadt und hätte bei einem Schwimmfest fast einen Tumult ausgelöst. Folglich wurde ich bis heute vom Schulunterricht ausgeschlossen und erhielt lebenslanges Eintrittsverbot im örtlichen Schwimmbad.
Wegen Punkt 1 hatte ich das verstörendste Erlebnis, das ich mir vorstellen kann, und esse deshalb nie wieder Coco Pops.
Wegen der Punkte 1 bis 9 habe ich fünf Tage lang kaum gesprochen. Außerdem bin ich aus unserem Haus ausgezogen und lebe seit letzter Woche in einem Zelt, das hinten im Garten aufgestellt ist.
Infolge der Punkte 1 bis 10 habe ich jetzt täglich eine Stunde Unterricht bei Miss O’Malley. Das Ganze nennt sich »Umgang mit Gefühlen«. Die Schule und meine Eltern haben klargestellt, dass die Teilnahme nicht freiwillig ist. Ich muss also hingehen.
An dieser Stunde nehmen zwei Personen teil, nämlich:
Miss O’Malley (die Schulschwester, Vertrauenslehrerin und Koordinatorin der schulischen Fürsorge).
Ich (Michael Swarbrick).
Das ist die erste Stunde. Das Ganze findet in Miss O’Malleys Büro statt. Nachdem ich den Raum zu Beginn der Stunde betreten hatte, setzte ich mich vor Miss O’Malley, nur durch den Schreibtisch von ihr getrennt. Dann stellte sie mir eine Menge Fragen, um zu erfahren, wie es mir geht. Ich beantwortete keine einzige, weil ich nicht über das sprechen will, was passiert ist.
Nach gefühlten zwei Stunden betretenen Schweigens tätschelte mir Miss O’Malley lächelnd das Handgelenk. Dabei fiel mir auf, dass sie große Hände hat; riesige Pranken, mit denen man ein Kätzchen zerquetschen könnte. Das ist seltsam, denn Miss O’Malley ist eher zierlich und hat eine Stimme mit irischem Akzent, die so leise ist wie der Luftzug unter einer Tür. Ihre Hände wirken völlig fehl am Platz, wie diese Schaumstofffinger, die manche Zuschauer bei Wrestlingkämpfen tragen.
Als sie mein Handgelenk losgelassen hatte, sagte sie, wenn ich es vorzöge, nicht zu reden könnte ich auch alles, was mir zu schaffen macht, aufschreiben. Sie versicherte mir, dass ich schreiben könne, was ich wolle, dass niemand außerhalb dieser vier Wände es je lesen würde. Dann holte sie einen Laptop unter ihrem Schreibtisch hervor. Sie sagte, den habe ihr die Schule gegeben, doch sie habe ihn nie benutzt, weil sie alles im Kopf behält. Dabei tippte sie sich an die Schläfe. Ich konnte den Blick nicht von ihrer gigantischen Hand abwenden. Miss O’Malley sollte vorsichtiger sein, wenn sie sich an den Kopf tippt. Dieses Riesending könnte ihr den Schädel zertrümmern.
Meine Gedanken begannen abzuschweifen. Ich fragte mich, wo sie wohl Handschuhe kauft. Es gibt spezielle Läden für Leute, die unglaublich groß oder unglaublich dick sind. Gibt es auch Handschuhläden für Frauen mit großen Händen? Wahrscheinlich ist da die Nachfrage zu gering. Nur wenige Frauen haben solche Pranken. Wahrscheinlich müsste der Laden auch noch große Schuhe verkaufen, um sich über Wasser halten zu können. Miss O’Malley trägt Schuhe mit Klettverschluss. Mit diesen Wurstfingern kann sie vermutlich keine Schnürsenkel binden.
Schließlich beschloss ich, nicht mehr über ihre Hände nachzudenken. Anscheinend ist das bei mir ein Problem. Wenn mir am Aussehen anderer Leute etwas auffällt, kann ich einfach nicht davon ablassen. Ich weiß zum Beispiel, dass mein sogenannter Freund Paul Beary unterm Arm ein fledermausähnliches Muttermal und am linken Fuß neunzehn Warzen hat.
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