Die strahlenden Hände
immer wieder vor die Tür, hinaus in die klammkalte Novembernacht, eingekesselt von den Bergriesen rundum.
Gegen Mitternacht wurde sie plötzlich stiller, setzte sich in den Sessel am Fenster, faltete die Hände im Schoß und schien nach innen zu lauschen. Ihre Augen sanken weg, schrumpften förmlich zusammen, verloren den Glanz, wurden von den Lidern halb verdeckt … daß sie atmete, sah man kaum noch.
»Cora … Cora …«, stotterte Marius mit angstvoll würgender Stimme. Er kniete vor ihr, hatte ihre Knie umfangen und starrte in ihr schmales, regungsloses und doch gelöstes Gesicht. »Der Arzt wird gleich anrufen!«
»Svetla …« Es war ein Hauch, der von ihr wegwehte. »Mein kleiner Liebling … Svetla … Ich bin ja bei dir … Ich bin da, deine Mama … sie läßt dich nicht allein … Gib mir dein Händchen … so ist es gut … siehst du, es wird alles gut … Mama ist bei dir, mein Liebling … Es ist so schön, nicht wahr … so schön … Meine kleine Svetla …«
Sie seufzte, ein glückliches, seliges Lächeln zog über ihr Gesicht.
»Cora …«, sagte Marius leise und tastete mit seinen Händen an ihr empor. »Cora, was ist denn …?«
Im Spital hob in diesem Augenblick der Arzt den Kopf und nickte. Die Schwester stellte den Tropf ab, der andere Arzt zog langsam das weiße Laken über den kleinen gelben Körper.
In der gleichen Sekunde blieb das Lächeln auf Corinnas Lippen stehen. Nur ein wenig sackte sie in sich zusammen, so, als wolle sie bequemer sitzen, und der Kopf sank etwas zur Seite. Ihre gefalteten Hände rutschten in den Schoß.
Marius kniete vor ihr, preßte die Lider zusammen und verging in dem Flehen: Nimm mich mit, nimm mich doch mit … laßt mich doch nicht allein zurück …
Aber er lebte, und mit dieser Last des Lebens rannte er im Haus herum, rannte hinaus in die Nacht und brüllte wie Corinna in die Dunkelheit: »Svetlana! Cora! Nehmt mich mit!« Und später saß er ganz still im Sessel Cora gegenüber, sah sie an, suchte Trost in ihrem übriggebliebenen Lächeln und begriff nicht, was hier geschehen war.
Am Morgen kam Dr. Zimmerli ins Haus. Fassungslos stand er vor der noch immer sitzenden Corinna, rührte sie nicht an, telefonierte mit Polizei und einem Bestatter und versuchte, mit Marius ein paar Worte zu reden. Er gab keine Antwort, saß Corinna gegenüber und sah sie nur immer an.
Auch als der Leichenwagen kam und man Corinna in einen Sarg legte, rührte er sich nicht. Er schien auch nicht zu begreifen, daß Zimmerli ihm zu erklären versuchte, daß man Corinna gerichtsmedizinisch obduzieren müsse, da es ein unklarer Tod sei. Er könne keinen Totenschein ausstellen ohne gesicherte Todesursache. Marius nickte nur, stand dann, als Corinna im Sarg weggeschafft wurde, ruckartig auf, ging in das Schlafzimmer und schloß sich ein.
Nach fünf Tagen wurde Corinnas Leiche freigegeben. Der Obduktionsbefund lag vor … ein Rätsel. Es gab keine Anzeichen eines Herzinfarktes oder eines Hirnschlages. Es gab nicht den geringsten Hinweis, wieso sie gestorben war. Das Herz hatte ganz einfach stillgestanden; ohne Anlaß, wie der Gerichtsmediziner feststellte. Auf den Totenschein mußte man schreiben: Herzstillstand. Ursache unbekannt.
Auf dem Friedhof des kleinen Schweizer Dorfes wurden sie begraben, nebeneinander. Ein großer heller Eichensarg, und ein kleiner weißlackierter Sarg. Marius hatte es so bestimmt. Er wollte in dem Haus wohnen bleiben. Es war Corinnas und Svetlanas Haus – und falls es stimmte, was Neroschenko gesagt hatte, dann waren sie immer um ihn, lebten aus einer anderen Welt mit ihm weiter. Wenn er allein war, würde er mit ihnen reden, würde er Corinna seine neuen Bilder zeigen und sie fragen: Sind sie gut so? Auch wenn er nie ihre Antwort hören konnte, hatte er dennoch das Gefühl, daß er nicht einsam war; daß Einsamkeit nur für den zum leeren Raum entartete, der nicht begriffen hatte, was Ewigkeit ist …
Professor van Meersei, der mit Corinnas Familie und ihren engsten Freunden zur Beerdigung in die Schweiz gekommen war, legte beim Abschied Marius den Arm um die Schulter:
»Du fragst dich die ganze Zeit, wie Corinnas Tod möglich war …«
»Das kann keiner erklären.«
»Es gibt eine Erklärung. Die Medizin kennt bei eineiigen Zwillingen einen gemeinsamen Tod, über alle Entfernungen hinweg. Man hat es den ›Krippentod‹ genannt – ein seltsames Phänomen. Parapsychologisch begreifbar nur aus der Vorstellung einer so engen, sozusagen
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