Die strahlenden Hände
rote Backenflecken? dachte sie. Ob sie nicht auftreten, wenn ich den Atem anhalte? »Jetzt bin ich müde, Cora, verstehst du das nicht? Ich will nicht alles zweimal erzählen.«
»Was hat Dr. Willbreit am Ende der Untersuchung gesagt?«
»Wenig. Im Grunde genommen gar nichts. Er war mit den Diagnosen zufrieden. Es seien klare Diagnosen, sagte er. Das ist doch beruhigend, was? Das ist doch schon etwas … Nun fahr endlich nach Hause, Cora!«
Es war zwecklos, noch weiter zu fragen. Corinna ließ den Wagen wieder an, fuhr zurück zur Allee und erreichte das Doerinck-Haus fast gleichzeitig mit Stefan Doerinck, der von der Lehrerkonferenz heimkehrte. Nebeneinander bremsten die Wagen, Doerinck sprang heraus und riß die Tür an Ljudmilas Seite auf.
»Milaschka!« rief er und zog seine Frau vom Sitz ins Freie. »War das ein Tag! Immer habe ich an dich denken müssen. Ich glaube, ich habe nur die Hälfte von dem mitgekriegt, was in der Konferenz besprochen wurde. Jetzt wird sie geröntgt, habe ich gedacht, und jetzt muß sie vielleicht einen Magenschlauch schlucken – und ich bin nicht bei ihr, sie ist allein … Milaschka, ich war zeitweise geistig völlig weggetreten!«
»Das kommt davon, daß ihr so verwöhnt seid. Ich war nie krank, und plötzlich sagt da Corinna: ›Laß dich mal gründlich in der Uni-Klinik von Münster untersuchen, Mama!‹ Und der alte Dr. Hambach gibt ihr auch noch recht. Also bin ich nach Münster und bin wieder zurück. Wozu die Aufregung, Stefan?«
»Und was hat's gegeben, Matjuschka?« Stefan Doerinck faßte seine Frau unter, gab ihr einen Kuß auf die etwas schräg gestellten Augen und wartete, bis Corinna die Haustür aufgeschlossen hatte. Eine glückliche Familie waren sie. Ihr Leben war in Ordnung. Ein Haus hatten sie, einen Garten dahinter mit zwei Apfelbäumen, zwei Birnbäumen und einem Zwetschgenbaum. An Spalieren wuchsen Johannisbeeren, Stachelbeeren und Brombeeren. Salat und Blumenkohl standen im Garten, Stangen- und Buschbohnen, Tomaten und Gurken, Zwiebeln und Lauch. Ein ganzes kleines Feld gehörte den Blumen, und hier vor allem den Sonnenblumen. Wenn die großen Blüten in der Sonne wogten, saß Ljudmila manchmal auf einem Hocker mitten zwischen den Blumen, die Hände im Schoß gefaltet und den Blick in weite Ferne verloren. In diesen Augenblicken ließ Stefan sie allein. Sie war dann wieder ein Kind, das in den Sonnenblumenfeldern von Tante Dschuna saß. Es war die ewige russische Seele, die einmal im Jahr Heimweh bekam, ganz gleich, wo auf der Welt Ljudmila sich befand und wie glücklich sie mit ihrem Leben war. Dem gemeinsamen Leben mit ihrem Mann. Es fehlte ihnen nichts. Neidlos betrachteten sie in den Illustrierten die Bilder aus der ›großen Gesellschaft‹, die Millionengeschmeide der Damen, die Maßfräcke der Herren, die Traumvillen und Traumjachten, die Traumautos und die Traumstrände, saßen dann hinter ihrem Haus auf der Holzbank und beobachteten den Flug der Schwalben im Abendrot oder das rhythmische Wiegen der Sonnenblumen im Wind, und wußten, wie sie seit fünfunddreißig Jahren alles gemeinsam wußten, daß Paradiese nicht golden zu schimmern brauchten und daß die Klinken der Pforte zum Glück nicht mit Brillanten belegt waren.
»Ich habe einen Hunger«, sagte Ljudmila. »O Gott, habe ich einen Hunger! Ich mußte doch völlig nüchtern bleiben, wegen dem Röntgen und so. Jetzt eß ich erst einen frischen Stuten mit dick Butter und dann ein Schinkenbrot. Frisches Brot von Schmoldes. Noch warm! Und du, Stefan, kochst einen starken Kaffee.«
Doerinck nickte, nahm ihr die Bäckertüte ab und trug sie in die Küche. Innerlich atmete er auf. Es ist nichts, dachte er glücklich. Wirklich nichts. Sie ist so fröhlich. Ist man so fröhlich, wenn man weiß, daß man krank ist? Wohl kaum. Wie gesund sie aussieht, wie schön. Ich würde mich immer wieder in sie verlieben und sie heiraten, auch jetzt mit ihren einundsechzig Jahren. Die glaubt ihr ja doch niemand. Ljudmila Davidowna Assanurian … vor sechsunddreißig Jahren fing das an, im Kaukasus, an dem kleinen See Paleostomi. Da beobachtete ein deutscher Oberleutnant ein wunderschönes, nackt badendes Mädchen …
Stefan Doerinck setzte die Bäckertasche ab, holte die Brote heraus, schnupperte und genoß den köstlichen Duft. Er widerstand der Versuchung, sich den Knapp abzuschneiden. Das war Ljudmilas Vorrecht. Es gehörte zu ihren kleinen großen Freuden, den Knapp eines frischen duftenden Brotes zu
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