Geschichte der deutschen Sprache
Vorwort
«Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.» Dieser nur allzu oft bemühte Satz von Johann Wolfgang von Goethe birgt eine Weisheit, die sich nicht allein auf einzelne Sprachen wie das Englische, Chinesische oder das Suaheli bezieht, sondern auch auf die verschiedenartigen Gebrauchsweisen solcher Einzelsprachen selbst. Ein Blick auf die folgenden beiden Beispiele zeigt dies:
Fater unseer, thū pist in himile
uuīhi namun dīnan, qhueme rīhhi dīn
uuerde uuillo diin, sō in himile sōsa in erdu.
Frage ich, wie viele 9 folgen unmittelbar nacheinander auf 3,1415 in der Entwicklung von
π,
und soll sich die Frage auf die Extension beziehen, so lautet die Antwort entweder, daß man bei der Entwicklung der Extension bis zur letztentwickelten (N-ten) Stelle über die 9-Reihe hinausgekommen ist, oder, daß bis zur N-ten Stelle 9 aufeinander folgen. Dann aber konnte auch die Frage keinen anderen Sinn haben, als den: ‹Sind die ersten N – 5 Stellen von
π
lauter 9 oder nicht?› – Das ist aber freilich nicht die Frage, die uns interessiert.
Der erste dieser beiden Texte stellt den Anfang des Vaterunsers dar und stammt aus dem alemannischen Mundartraum des 8. Jahrhunderts, der zweite findet sich in den «Philosophischen Bemerkungen» des Philosophen Ludwig Wittgenstein aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam deuten sie eine sprachgeschichtliche Spanne an, die von religiösen Quellen mundartlicher Prägung bis zu philosophischen Texten mit wissenschaftssprachlicher Orientierung reicht und über 1300 Jahre umfasst. Beide Texte weichen erheblich von der Sprache im Alltagab und vermitteln einen ersten Eindruck davon, wie verschiedenartig der Sprachgebrauch auch innerhalb einer einzelnen Sprache sein kann – je nachdem, welche persönlichen, räumlichen, fachlichen oder gesellschaftlichen Bedingungen in dem betreffenden Augenblick gerade herrschen.
In dem vorliegenden Band geht es um die geschichtliche Entwicklung der deutschen Sprache – und um die Frage, warum das Deutsche heute so ist, wie es eben ist. Im Einzelnen stehen dabei folgende Gesichtspunkte im Vordergrund: Wo liegen eigentlich die Ursprünge der deutschen Sprache? Bestimmt die Art und Weise, wie das Deutsche gesprochen wird, die Gestaltung seiner Schriftsprache – oder vielmehr umgekehrt? Entwickelt sich die deutsche Grammatik zu strengeren Normen hin und hat deren schriftliche Aufzeichnung dabei eher einen beschreibenden oder eher einen vorschreibenden Charakter? Nimmt das Wissen der deutschen Sprachgemeinschaft über die Jahrhunderte zu, und erweitert sich dabei auch ihr Bestand an einzelnen Wörtern und Begriffen? Aus welchem Grund und auf welchem Wege bildet sich die deutsche Literatur- oder Standardsprache heraus, und in welchem Verhältnis steht sie dabei zu Mundarten, zur Sprache der Dichtung oder zu Fachsprachen? Und schließlich: Lassen sich einzelne Perioden im Rahmen der deutschen Sprachgeschichte unterscheiden und durch geeignete Merkmale charakterisieren? Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen soll einen Beitrag dazu leisten, die Geschichte der deutschen Sprache näher kennen zu lernen und die deutsche Gegenwartssprache vor deren Hintergrund besser beurteilen und bewerten zu können.
Die vorliegende Darstellung wendet sich dabei an all diejenigen, die sich in der Schule oder im Beruf oder aus eigenem Interesse mit der deutschen Sprache und ihrer Geschichte beschäftigen möchten; sie ist nicht für Fachwissenschaftler (Linguisten oder Germanisten) geschrieben. Sprache wird im Folgenden als ein vielschichtiges Mittel der Kommunikation verstanden, das die sozialen und kulturellen Verhältnisse der Gesellschaft, in der sie verwendet wird, widerspiegelt. Dabei werden (auch gegenüber anderen kurzen Darstellungen der deutschen Sprachgeschichte)zwei Akzente gesetzt: Zum einen steht die Entwicklung des sprachlichen Systems im Deutschen selbst im Vordergrund und wird auf ihre sozialen und kulturellen Bedingungen hin betrachtet; es wird also in der Regel nicht von der Sozial- und Kulturgeschichte, sondern von den einzelnen Sprachveränderungen ausgegangen. Zum anderen werden verschiedene Ebenen der sprachlichen Entwicklung wie die von Laut und Schrift, Grammatik oder Wortschatz jeweils in eigenen Kapiteln behandelt, die auch unabhängig voneinander gelesen werden können; ein Gesamtabriss findet sich am Schluss im Rahmen der Darstellung sprachgeschichtlicher Perioden.
Diese kleine «Geschichte
Weitere Kostenlose Bücher