Die Straße nach Eden - The Other Eden
und besaß ein Panoramafenster, von dem aus ich durch die Efeuranken und Rosen hindurch, die in unserem Dachgarten wuchsen, die Engelsstatue in der nordwestlichen Ecke des Parks sehen konnte. Manchmal saß ich stundenlang an diesem Fenster und betrachtete den gesenkten Blick, die schönen, ebenmäßigen Züge, die ausgebreiteten Arme und die mächtigen Flügel des Engels. Oft nahm ich den Diamantanhänger, der das einzige Andenken meiner Mutter an ihre Kindheit gewesen war - und nun mein einziges Andenken an sie darstellte -, hob ihn an mein Auge und sah mir den Engel durch seine Prismen hindurch an. Sie verliehen ihm einen Anschein von Leben, die sein steinernes Selbst so nie ausstrahlen könnte. Als kleines Mädchen bildete ich mir ein, er sei mein Schutzengel. Vermutlich brauchte ich ihn als greifbare Verbindung zu meiner Mutter.
Aber ich muss gestehen, dass mir nicht viel Zeit blieb, sie zu vermissen.
Jeden Sonntag nahmen mein Großvater und ich Punkt vier Uhr im Ritz-Carlton unseren Tee ein. Ich kannte jeden Kellner mit Namen und wurde von ihnen nach Strich und Faden verhätschelt. Donnerstagabends steckte mich meine britische Nanny Emmeline in Samt- oder Seidenkleider, kniff mir in die Wangen, damit sie rosig leuchteten, und versuchte meine ungebärdigen blonden Locken mit Haarklemmen zu bändigen, damit sie mir nicht ständig in die
Augen fielen. Dann erschien mein Großvater im Tweedanzug, von einer Wolke von Pfeifenrauch umgeben, und ging mit mir zu Konzertveranstaltungen, wo die feinen Damen und Herren mich stets verwundert anstarrten, weil ich das einzige Kind war, das sich regelmäßig dort einfand. Der Konzertsaal war der einzige Ort, wo ich es nicht darauf anlegte, Aufmerksamkeit zu erregen. Ich saß mit weit von mir gestreckten Beinen auf meinem Ledersitz; blind und taub für alles außer der Musik.
Doch die Samstage waren mir die liebsten. An den meisten Samstagabenden waren wir eingeladen. Mein Großvater ließ mich trotz Emmelines Protestes, er würde mir schaden, wenn er mich an eine so unkonventionelle Lebensweise gewöhnte, nie zu Hause. Er lachte nur über ihre Bedenken und hob mich in die Kutsche, die uns zu einem der vielen eleganten Herrenhäuser brachte. Dort, in den Heimen der reichsten und exzentrischsten Mitglieder der Bostoner Gesellschaft, wurden Dinner, Bälle und Empfänge veranstaltet, bei denen stets exotische Gäste zugegen waren: ausländische Botschafter, Angehörige des europäischen Adels oder die jüngsten aufgehenden Sterne am Kunst- und Musikhimmel. Ich lauschte unter Tischen und hinter Vorhängen, während die Erwachsenen über Nietzsche, den Kubismus oder die ersten Anzeichen drohender Unruhen in Europa diskutierten. Unweigerlich endeten diese Abende mit einem meiner Auftritte. Ich saß am Klavier wie der kleine Mozart und spielte für die mich verblüfft musternden Gäste Fugen von Bach und Sonaten von Beethoven, und das mit derselben Leichtigkeit, mit der andere Kinder Kinderliedchen herunterklimperten.
Das war meine Kindheit. Sie endete am Abend meines einundzwanzigsten Geburtstages, am 21. Dezember 1924. Mein Großvater hatte unseren Lieblingstisch im Ritz und eine Loge in der Symphony Hall, Bostons großer Konzerthalle,
für uns beide und seine beste Freundin Mary Bishop reserviert. Sie war eine Witwe Mitte fünfzig, die als meine erste Klavierlehrerin in mein Leben getreten und im Laufe der Jahre zu einer Art Ersatzmutter für mich geworden war.
Wir hatten Glück an jenem Abend, es wurde die Amerikapremiere eines neuen Pianisten angekündigt, von dem ich und meine beiden Begleiter kaum etwas wussten: ein Russe, der erst kürzlich nach Amerika eingewandert war. »Alexander Trewoschow«, las ich Mary vor, deren Augenlicht schon bei Tage schwach war und die in der dämmrigen Konzerthalle die klein gedruckten Buchstaben nicht zu entziffern vermochte. Er würde Chopin spielen: die erste Sonate, eine Auswahl von Etüden und Nocturnes und die Ballade in G-Moll.
»Die G-Moll-Ballade«, wiederholte Mary. Sie trug eine Art chinesischen Pyjama aus kornblumenblauer Seide, der zu ihren Augen passte. Ihre Ärmel flatterten wie die Flügel eines tropischen Schmetterlings, wenn sie sich bewegte.
»Ja…« Ich hielt inne und las das Programm erneut. »Ja, eindeutig die erste, Opus 23, G-Moll.« Ich bedachte sie mit einem Lächeln, das eigentlich für den Mann in der Nachbarloge bestimmt war. »Hörst du die besonders gern?«
»Sie ist einfach herrlich. Du weißt doch, wie
Weitere Kostenlose Bücher