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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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in unserem Hausflur und im Büro meines Vaters. Normalerweise gehörten die eigentlich auf die Straße oder ins Fernsehen, sie jetzt bei uns zu sehen brachte völlig die Sphären durcheinander. In meinem Kopf bildete sich etwa folgende logische Kette: Mann – dunkler Mantel – geheimer Winkel – Mädchen – Mantel öffnen – Mädchen erschrecken – Polizei. Wobei ichsagen muß, daß ich das Erschrecken nicht wirklich verstand. Dieses Erschrecken hatte eher etwas mit der abrupten Aktion des Mantelaufreißens zu tun. Genauso abrupt zogen die Mädchen manchmal vor mir ihre Hosen nach unten, wenn sich keine Eltern im Haus befanden und sie in dem anderen Zustand waren. Es hatte etwas mit Überraschung zu tun, allerdings erschrak ich nie darüber, ich wußte nur dann mal wieder nicht genau, was ich jetzt eigentlich tun sollte.
    Die Mädchen mußten den Mann beschreiben, wurden genau nach dem Tathergang befragt, und sicherlich war währenddessen bereits ein zweiter Streifenwagen unter dem Rosenthalviadukt, und andere Polizisten suchten das Terrain nach dem Mann ab. Natürlich wurde er nicht gefunden.
    Die Mädchen waren währenddessen immer noch in Aufruhr, inzwischen hatte sich die Gruppe bei uns einigermaßen zerstreut, die meisten waren nach Hause gegangen, alle standen wie unter Schock oder meinten zumindest, unter Schock stehen zu müssen. Schließlich hatte ihre Erzählung von dem eigenartigen Mann dazu geführt, daß die Polizei gekommen war! Ein paar Stunden später versammelten sich wieder einige der Mädchen bei uns, der Schock war nun merklich abgeklungen oder hatte sich, anders gesagt, transformiert in ein immer neues Erzählen der Begebenheit, ein Erzählen unter immer neuenAspekten, sie konnten von dem Thema nicht lassen, kicherten und gingen, glaube ich, jetzt auch in die Einzelheiten, aber nur solange kein Erwachsener dabei war. Sie fanden es unglaublich eklig und machten dabei wieder ihre Gesichter, und während die Mädchen so ihr Abenteuer hatten, an dem sie sich für die nächsten Tage in ihren Gesprächen und auf dem Schulhof würden festhalten können, begannen die Telefone im Mühlweg und in den anliegenden Straßen zu klingeln.
    Im Grunde kannten sich die Leute in unserem Viertel nicht. Das Viertel existierte nicht so lange, daß es eine Geschichte und eine gewachsene Struktur hätte haben können. Eigentlich waren wir alle Siedler. Die Kontakte kamen, wenn, dann meistens darüber zustande, daß man entweder direkter Nachbar war oder daß die Kinder gemeinsam in dieselbe Grundschule gingen oder auf dieselbe weiterführende Schule. Wenn es etwas zu besprechen galt, ging man zu der betreffenden fremden Familie nicht hin, sondern man rief an, auch wenn sie lediglich hundert Meter entfernt wohnte. Die erste Welle der Telefonate an diesem Nachmittag beschäftigte sich mit der Frage, ob die Polizei das Schwein denn aufgegriffen habe. Natürlich existierten alle Informationen nur als Gerüchte, aber bis zum frühen Abend war offenbar geworden und bis in die letzte Wohnung im Barbaraviertel vorgedrungen, daß niemand gefunden worden war. Das setzte als nächstes folgende Gedankenbewegung in Gang: Wenn diese Sau weiter frei herumlief, konnte sich diese Sau weiterhin irgendwohin stellen und sich wieder entblößen, wahrscheinlich wieder am Viadukt oder in der Nähe, und wieder vor unseren Kindern. Den Kindern wurde gesagt: Siehst du einen fremden Mann, der etwas Seltsames macht, lauf gleich davon und sofort nach Hause!
    Bei den Telefonaten wurde eine Art Sexualsoziogramm dieses Schweins im Mantel ohne Hosen entwickelt. Mosaikartig wurde dieses Soziogramm weitergebildet, bei den verschiedensten Telefonpaarungen, die an diesem Nachmittag telefonierten und insgesamt eine gigantische Telefonkette bildeten. Wenn dieser Mann sich vor den Kindern entblößte, war er ein Perverser. Ein Perverser war ganz grundlegend eine Gefahr. Einige wußten, daß das Entblößen nur der Anfang sei. Am Anfang werde entblößt, aber Gnade Gott, was als nächstes folgt. Er zog die Kinder ins Gebüsch. Er zog sie in einen Wagen und verschleppte sie. Er schleppte sie in den nächsten Wald und verging sich dort an ihnen. Er hielt sie tagelang gefangen, verging sich immer wieder an ihnen, und dann tötete er sie, oder er tötete das Kind gleich und fuhr wieder zurück und holte sich das nächste. Er war in diesen Gesprächen eigentlich bereits ein Massenkindermörder, zumindest drohte die Gefahr, und wenn die Polizei nichts tat

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