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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Zeitlang regelrecht Routine war, allmittäglich ausgeübt. Sie gab mir immer genaue Anfaß- bzw. Streichelanweisungen. Ob ich selbst angefaßt oder gestreichelt wurde, kann ich nicht sagen. Die Mutter liebt ihr Kind. Mutterliebe. Zärtlichkeit.
    Die Mutter der Heusslers trug dabei übrigens eine Kittelschürze. Auch die obere Etage bei den Heusslers wurde erst viel später in ihren optischen Motiven für mich zu einem zusammenhängenden Bild, von der Schwanzfigur im schwarzen Mantel bis hin zu dem Bett, in dem seitdem für mich immer diese Mutter lag, auch wenn sie natürlich die meiste Zeit gar nicht darin gelegen hatte.
    Die Wetterauer Sehnsucht. Und ihre Maschinisierungsgrade.
    Es ist dieser Schmerz, der, wie unter einer Haut,wie eine Geschwulst, stets an die Oberfläche kommen wollte, und er suchte dafür die nächstbeste Gestalt. Schmerz durch Mädchen war die erste Objektivierung, oder Schmerz durch Jungs, je nachdem. Die Messer oder Rasierklingen, eine andere, aber ganz ähnliche Stufe des Schmerzes, folgten später. Johns Arme aber waren, soweit ich mich erinnern kann, wohl eher unberührt. Allerdings, wenn ich darüber nachdenke, dann waren am Ende seiner Deutschlandzeit seine Arme immer bedeckt durch langärmelige Hemden. Und wenn ich mich genau zu erinnern versuche, dann kann ich nicht sagen, ob ich Johns Arme überhaupt jemals gesehen habe. Vielleicht trug er deshalb am Ende (in den Wochen, bevor er aus meinem Blickfeld entschwand) diese seltsam langen Gewänder, als habe er gerade einen Indientrip hinter sich. Unsere Arme, unser Schmerz. Ob er deshalb so bleich war und nie ans Licht ging? Damit die anderen nicht quatschten und nicht fragten?

I ch sitze im Zimmer meines Onkels J., schaue an die Wände und überlege mir, wie es hier zu seiner Zeit wohl ausgesehen haben wird, ob hier irgendwelche Regale gestanden haben und wo er seine Hefte hingesteckt hatte, damit sie keiner sah. Meine Großmutter sah ja nie nach. Dennoch wird er sie versteckt haben. Aber heute ist das Zimmer leer, das Heft könnte man höchstens in die Ecke legen, jeder würde es sofort sehen.
    Meine ganze Jugend über entdeckte ich diese Hefte. Sie waren wie eine Spur durchs Leben. Irgendwann zeigte der erste Junge in der Schule sein erstes Penthouse-Magazin. Andere durchsuchten Kinomagazine nach Nacktbildern. Ich besuchte meine Mitschüler in der Stadt oder in ihren Dörfern und entdeckte manchmal ganze Jahrgänge im untersten Regal neben ihren Betten: Mädchen am Brunnenrand oder im Wald und manchmal immerhin leicht verhüllt in durchsichtigen Tüchern. Immer blickten sie einen an. Andere auf Motorrädern und stets nackt. Half ich einem Bekannten beim Umzug von einem Zimmer ins andere, lag eigentlich immer etwas unter der Matratze. Später kursierten die Heftebis ins Café Kissler und ins Café Rosenschon hinein. Es war eine Spur des Lebens quer durch die Wetterau, überall kaum verschüttet, nur nachlässig verwischt. H. war bereits auf Filme umgestiegen und hatte einen Videorecorder. Auch meinen Onkel stelle ich mir ja immer beim Magazinkauf vor, wie demütig am Kiosk stehend, so wie andere ihre Hostie empfangen.
    Damals, eine Weile nach John, lernte ich den alten Adomeit kennen. Beim alten Adomeit lagen immer die allerbilligsten Hefte herum, denn er hatte kaum Geld.
    Adomeit – jeder in meiner Heimatstadt wird ihn noch kennen – lief immer in seinem alten Armeeparka und seinen verbeulten Jeans durch Friedberg, meistens bloß mit einem Unterhemd unter der Jacke. Er rauchte billigsten Tabak, anderen konnte er sich nicht leisten. Es war die Zeit, als alles um mich herum hell war, in jenen frühen Sommern, als ich alles vergessen hatte. Adomeit traf ich im alten Literaturcafé unten an der Seewiese (dort war dieses Café zuerst eröffnet worden, erst später zog es nach oben in die Stadt), er saß im Lascaux, unserer Kellerkaschemme, er hockte bei Erwin Rausch in der Schillerlinde auf der Holzbank, oder er lief durch die Stadt, wobei er manchmal eine Krücke brauchte, denn er hatte ein kaputtes Knie. Er schwadronierte, erfand die seltsamsten Geschichten, die erstets als Wahrheit ausgab, und hielt geradezu hof. Wir besuchten ihn oft, halfen ihm bei diesem und jenem, feierten mit ihm Geburtstag, manchmal auch Weihnachten.
    Zu Hause in seiner kleinen Sozialwohnung hatte der kleine, nicht gut bewegliche Mann im Raum neben der Küche nur eine Pritsche stehen, eine Art Feldbett, und wenn wir bei ihm waren, setzte ich mich manchmal auf

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