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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seine Pritschenkante, sah den alten Adomeit, wie er am Küchentisch mit den anderen jene Gespräche führte, die für mich in meiner Jugendzeit eigentlich die wichtigsten überhaupt waren (in der Stadt galt er den meisten als Penner), sah das karge Licht, die unverhüllten Fenster, die schäbige Einrichtung, und ich sah auf das Brett neben der Pritsche, auf dem die Hefte lagen, ich ahne noch, wie sie hießen, Sankt Pauli Nachrichten und Praline und so weiter. Die Frauen in kräftigen, ramschmäßigen Farben und stets nachkoloriert. Wieder irgendwo im Norden oder Süden in irgendwelchen Büros von irgendwelchen Redakteuren konzipiert und auf allen Straßen der Republik bis in den kleinsten Ort und in die kleinste Stube als Grundversorgung hineintransportiert. Es war egal, ob das Zimmer und das Haus und die Straße in unserem Ort und unserem Kreis, dem Wetteraukreis, lagen oder ob das Zimmer und die Wohnung und alles Weitere in Frankfurt oder Hamburg oder dem Lahn-Dill-Kreisoder in irgendeinem Landkreis in Ostwestfalen lagen, die Straße (auf der alles kam) war dieselbe, die Menschen waren dieselben, die Magazine waren dieselben, und die Abnehmer waren ebenfalls dieselben. In jedem Ort, in jeder Stube sahen sie dieselben Busen, dieselbe zukolorierte Scham, dieselben Ärsche, so wie sie, eine Wand weiter in der nächsten Wohnung, den neuen Dr. Sommer-Artikel lasen, und die einen waren fünfzig oder sechzig oder siebzig und hatten die Maschinisierungsgrade ihrer Lust (oder Sehnsucht) bereits gelernt und definiert und (die Grade) fixiert, und die anderen, die Mädchen, saßen, noch umgeben von ihren Bravo-Postern, gemeinsam mit ihren Freundinnen in Höschen auf ihren Betten (die Freundinnen übernachten heute hier), was auf der anderen Seite der Wand, kaum einen Meter weiter, schon wieder ein Fotomotiv gewesen wäre. So existierte alles Wand an Wand, die eine und die andere Seite.
    Ich hatte seit dem ersten Augenblick beim alten Adomeit, als ich diese Erotikheftchen sah, nie den Gedanken: wie armselig! wie kommst du, mein alter Kerl, nicht in Frage! wie peinlich bist du, wie unangenehm ist es für mich (ich bin ja noch ziemlich jung und kann mir die Wichserei über diesen Magazinen noch nicht vorstellen), mir dich mit diesen Heften in der Hand auszumalen!
    Manchmal ging ich die Magazine für ihn kaufen.Er lag, das Knie war gerade schlimm, auf seiner Pritsche oder saß an seinem Tisch, das eine Bein auf dem Stuhl, und sagte: Wenn du zum Becker gehst, hier ist das Geld, dann kannst du ja drei Flaschen Bier und ein Päckchen billigen Tabak und die neue Praline mitbringen. Er kaufte die Magazine nur alle paar Wochen. Sie auf seinem Brett zu sehen war für mich anders, als die Bauarbeiter oder die Spediteure in der Stadt mit ihren Bildzeitungen zu sehen und den Frauen darauf. Adomeit zeigte seine Hefte manchmal auch herum und sprach von der Carmen und der Astrid, als kennte er die alle persönlich. Und tatsächlich hießen sie in den Magazinen ja auch so.
    Ein Mensch, und alles offensichtlich an ihm. Kein Schwein, und keiner, der einen zu einem Mitschwein machen wollte. Ich sehe die scharf konturierenden Farben der Frauenfotos immer noch vor mir. Sie waren nie erotisch. Aber er glaubte daran. Und dann waren sie es ja auch. Und nur so konnte es sein. Vielleicht sprach er anschließend ein Gebet, aber nur im geheimen, denn offiziell war er Atheist. Ein Mensch, und ich würde ihm heute noch, wenn ich ihm etwas auf das Grab legte (ich finde es nicht mehr, vielleicht ist es schon abgeräumt, es hatte nur ein Holzkreuz, und sein Tod ist schon wieder über zwanzig Jahre her), vielleicht Rosen hinlegen, denn Rosen wuchsen immer im Garten meiner Eltern, und ich war mein ganzes Leben in Friedberg immer von Rosenduft umgeben, aber vor allem würde ich ihm eine Praline auf das Grab legen, oder eine Sankt Pauli Nachrichten . Ich kenne Frauen, die kennen den alten Adomeit nicht, aber wenn ich diesen Frauen vom alten Adomeit erzähle, sagen sie, fotografiere mich, so wie ich bin, und dann stecke es in seine Erde zu ihm, denn woandershin kann man es ja nicht mehr stecken.

Der Autor dankt dem Deutschen Literaturfonds.

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