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Die Straße - Roman

Die Straße - Roman

Titel: Die Straße - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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währenddessen vor, und all das war die Geburt dieser seltsam verklärten, seltsam kaputten Person, die am Ende fast etwas Engelhaftes bekam, auch wenn sie immer noch nicht schlank war.
    Der Reichelsheimer oder Wölfersheimer wurde in unserer Familie nicht thematisiert. Ich glaube nicht, daß er von irgendwem angezeigt wurde. Ich vermute, die betreffende Organisation hatte schon öfter solche Erfahrungen gemacht, so daß man sie als Restrisiko (samt Kollateralschaden) stets mit in Kauf nahm. Übrigens wurde in Friedberg möglichst wenig darüber geredet, um John nicht weiter zu beschädigen. Je weniger Personen davon wußten, desto besser, dachten meine Eltern vermutlich. Natürlich kamen später auch Leute an, Gleichaltrige, Schulkollegen, die es ganz genau wissen wollten, weil für sie ein gewisser Reiz von diesem Thema ausging. John, das dicke, wandelnde Erotikon wider Willen. Für einige war er wohl geradezu ein Abenteurer wegen seiner Reichelsheimer bzw. Wölfersheimer Erlebnisse. Andererseits denke ich heute auch, es kann durchaus sein, daß John für manche seiner Schulkollegen ein Eingeweihter war, undzwar eingeweiht in etwas, in das sie auch eingeweiht waren, und deshalb gab es vielleicht eine Gruppenzugehörigkeit oder zumindest den Ansatz dazu.
    Ein nicht geringer Grund, wieso Johns Reichelsheimer bzw. Wölfersheimer Erlebnisse in Friedberg lieber nicht zur Sprache kommen sollten, waren wohl auch seine hiesigen Lehrer. Die waren teilweise ja auch eingeweiht, wenn auch von der anderen, der aktiven Seite aus, wie man vermuten kann. Wenn sie wußten, daß der blasse, dicke Amerikaner es schon einmal erlebt/getan hatte, dann belebte der Amerikaner den Gedanken daran ja quasi allein schon durch sein Auftreten ständig neu, so daß der eine oder andere ständig Sex vor sich sah, wenn er John Boardman sah. Aus dem Opfer wäre so gleich auch noch das Folgeopfer geworden, ähnlich wie dort, wo ein entjungfertes Mädchen als Nutte gilt, und da können dann am besten alle anderen auch gleich noch drüber. Auch hier sind beide Kategorien möglich: Den einen schuf er Sehnsucht durch seine verschwiegenen, ungeouteten Erlebnisse, die anderen machte er geil wie Böcke. Dabei war er wirklich unansehnlich. Nur der Reichelsheimer oder Wölfersheimer hatte ihn ansehnlich gemacht. Als experimentierten alle in ihrem Kopf mit dem Reichelsheimer oder Wölfersheimer Blick auf diesen Amerikaner.
    John Boardman war alt genug, um zu wissen, was er erlebt hatte. Zur Sprache mußte er es ja nichtbringen. Wieso hätte er das tun sollen? Aber vielleicht hatte er auch den größten Teil schon wieder vergessen und in Dunkelheit gehüllt.
    Wenn ich heute an meinen Gang in das Hexenhäuschen denke, habe ich ja auch keine Erinnerung mehr an das, was dort tatsächlich geschah ab dem Augenblick des Zitterns. Ich habe nur noch die Erinnerung an den Moment, wo ich mit meinem eigenen Willen gesagt habe, ich möchte jetzt gehen. Ich weiß nicht, wie klug ich damals war, und kann es auch nicht einschätzen. Was bis dahin geschehen war und was sie bis dahin von mir in der Hand hatten, das Bild wird komplett schwarz, wenn es darum geht. Möglicherweise hatten sie gar nichts von mir in der Hand, möglicherweise alles.
    Ich weiß auch nur bis zu einem bestimmten Punkt, wie ich mich mittags mit meiner Mutter ins Bett legen sollte. Ich war der Jüngste, und ich hatte Zutrauen und kannte nichts anderes. Ich sehe den nackten Rücken meiner Mutter vor mir, hier und da mit Leberflecken versehen, wie ich sie heute selbst auf dem Rücken trage, und wie ich diesen Rücken anfassen und genauer gesagt streicheln sollte. Ich sollte auch die Arme anfassen bzw. streicheln. Es gab ein regelrechtes Anfaß- bzw. Streichelprogramm, meine Mutter schnürte dafür immer ihr Nachthemd auf. Der Vater war bei der Arbeit in Frankfurt bei der Henninger Bräu, und die Mutter zog ihr Nachthemd an und ging ins Bett, und ich mit. Drehte sie mir ihren Bauch zu, sollten die Arme angefaßt bzw. gestreichelt werden, drehte sie mir ihren Rücken zu, dann sollte dieser angefaßt bzw. gestreichelt werden, und das Nachthemd war so beschaffen, daß man es den ganzen Rücken über öffnen konnte. Ob das die Zeit meiner ersten Schuljahre war oder noch die Zeit vor meiner Einschulung, wenn wir ganz allein im Haus waren, kann ich nicht sagen. Keine Ahnung, wie mir das damals alles vorkam. Ich weiß nur, daß dieses gemeinsame Ins-Bett-Gehen mit der Mutter im weit geöffneten Nachthemd eine

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