Die stumme Bruderschaft
machen, er werde nicht mehr reisen, nicht mehr unterwegs sein, er werde nur noch von seinem Büro aus arbeiten. Giorgio, sein Arzt, sagte nur, er sei verrückt. Seine Kollegen aber begrüßten die Entscheidung. Was ihn dazu bewogen hatte, seine Meinung zu ändern, war die Überzeugung, dass dieser Brand in der Kathedrale kein Zufall war, sosehr er der Presse gegenüber auch das Gegenteil behauptete.
Und da war er nun und ermittelte bei einem weiteren Brand in der Kathedrale von Turin. Es war noch keine zwei Jahre her, da hatte er wegen eines versuchten Diebstahls ermittelt. Sie hatten den Täter durch Zufall erwischt. Zwar ohne Beute, aber er hatte offensichtlich nur nicht genug Zeit gehabt, etwas zu stehlen. Einem Priester, der an der Kathedrale vorbeiging, war ein Mann aufgefallen, der erschreckt vor dem Alarm floh, der lauter tönte als sämtliche Glocken. Er lief hinter ihm her und rief: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb!«, und mit Hilfe von zwei Passanten konnte der Mann nach einem kurzen Handgemenge überwältigt werden. Aber sie konnten nichts über ihn herausfinden: Er hatte keine Zunge. Sie war ihm herausgeschnitten worden. Und man konnte auch keine Fingerabdrücke nehmen, denn die Fingerspitzen waren pure Brandnarben; das heißt, er war ein Mensch ohne Vaterland und ohne Namen, der seither im Gefängnis von Turin saß.
Nein, Marco glaubte nicht an Zufälle, es war kein Zufall, dass die Diebe aus der Kathedrale von Turin keine Zunge und verbrannte Fingerspitzen hatten.
Das Grabtuch wurde vom Feuer verfolgt. Marco hatte seine Geschichte studiert und herausgefunden, dass es mehrere Brandanschläge überlebt hatte, seit es in den Besitz des Hauses Savoyen gelangt war. Zum Beispiel hatte es in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1532 in der Sakristei der Kapelle, wo das Tuch aufbewahrt wurde, angefangen zu brennen, und die Flammen hatten die Reliquie fast schon erreicht, die damals in einer silbernen Vitrine, einem Geschenk der Margarethe von Österreich, verwahrt wurde.
Ein Jahrhundert später wäre ein anderer Brand wiederum fast bis zu dem Leichentuch vorgedrungen. Zwei Männer wurden dabei überrascht, und als sie sahen, dass sie verloren waren, stürzten sie sich in das Feuer, ohne einen Laut von sich zu geben. Hatten vielleicht auch sie keine Zunge gehabt? Man würde es nie mehr in Erfahrung bringen.
Auch nachdem das Haus Savoyen das Leichentuch im Jahr 1578 der Kathedrale von Turin übergeben hatte, war die Brandserie nicht abgerissen. Es war nicht ein Jahrhundert vergangen, in dem man nicht versucht hatte, das Tuch zu stehlen oder in Brand zu setzen, und obwohl man in den letzten Jahren den Tätern immer auf den Fersen gewesen war, blieb das Ergebnis ernüchternd: Sie hatten keine Zunge und waren folglich stumm.
Und die Leiche, die man gerade ins Leichenschauhaus gebracht hatte?
Eine Stimme holte ihn in die Realität zurück.
»Chef, der Kardinal ist da; er ist gerade angekommen, Sie wissen ja, er war in Rom … Er will mit Ihnen sprechen, der Vorfall scheint ihn sehr mitzunehmen.«
»Kein Wunder. Er hat aber auch Pech. Es ist nicht einmal sechs Jahre her, da hat man ihm die Kathedrale in Brand gesetzt. Vor zwei Jahren dann der versuchte Diebstahl, und jetzt schon wieder ein Brand.«
»Ja, er bedauert, dass er sich noch einmal zu Umbaumaßnahmen hat überreden lassen, er sagt, das sei das letzte Mal, die Kathedrale habe Hunderte von Jahren überstanden und mit der ganzen Umbauerei und Stümperei gehe schließlich noch alles kaputt.«
Marco öffnete eine Seitentür in der Wand der Kathedrale mit der Aufschrift »Büro«. Drei oder vier Priester liefen aufgeregt hin und her; zwei ältere Frauen, die sich einen Tisch teilten, wirkten sehr beschäftigt, während einige seiner Beamten, die im Inneren der Kathedrale Spuren sichern sollten, wiederholt rein- und rausgelaufen kamen. Ein junger Priester, ungefähr dreißig, trat auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest.
»Ich bin Pater Yves.«
»Und ich Marco Valoni.«
»Ja, ich weiß. Kommen Sie mit, Hochwürden wartet schon auf Sie.«
Der Priester öffnete eine schwere Tür zu einem holzvertäfelten Raum mit Renaissance-Bildern, einer Madonna, einem Christus, einem Heiligen Abendmahl … Auf dem Tisch lag ein Kruzifix aus gehämmertem Silber. Nach Marcos Schätzung war es mindestens dreihundert Jahre alt. Der Kardinal hatte ein freundliches Gesicht, war aber durch das Ereignis sichtlich aufgewühlt.
»Setzen Sie
Weitere Kostenlose Bücher