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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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an, über das Leben nachzudenken, ich habe nicht mehr viel Schnaps."
    Bindig hob ruckartig den Kopf und lauschte. Zado beobachtete ihn mit einem kleinen Lächeln.
    „Der Zug...", sagte Bindig.
    Zado nickte. „Ich weiß. Ich habe ihn schon längst gehört. Laß ihn kommen."
    Sie konnten die Brücke deutlich sehen. Es war eine schöne Brücke. Das Sternenlicht hauchte einen matten Schimmer über die Steinquadern. Sie erhob sich inmitten des buschbewachsenen Landes wie ein Zierat, den ein Riese verloren hatte und der einfach liegengeblieben war, hier zwischen den Akazien und Buchen. Der Zug schob sich wie eine gefährliche, schwarze Schlange heran. Er kam aus dem Hinterland. Plateauwagen mit Panzern. Ein Panzer hinter dem anderen. Immer das gleiche Modell. Klobige T 34 mit waagerecht gekurbelten Geschützen. Sie lagen wie unbeholfene Kolosse auf den Waggons, scheinbar unfähig, sich zu bewegen. Wie tote Urzeittiere mit traurig gesenkten Rüsseln, die mitten in der Bewegung erstarrt waren, erfroren.
    „Mein lieber Mann", flüsterte Zado, „das hat sich gelohnt heute. Dieser Zug, und dann die Brücke ..."
    Sie drückten ihre Zigaretten aus. Die Lokomotive fuhr auf die Brücke. Sie erhoben sich automatisch und traten zwischen die Bäume, verloren aber die Brücke nicht aus dem Blick, sie sahen sie ebensogut wie zuvor.
    Der Oberkellner aus Stuttgart hatte eine winzige Verzögerung in die Sprengladungen eingebaut. Die Lokomotive fuhr über die Stelle, an die er den Kontakt gelegt hatte. Aber sie fuhr unbeschadet weiter und zog noch den zweiten, dritten, den vierten Wagen über den Kontakt. Dann schlugen aus den beiden mittleren Pfeilern die Flammen, und Bruchteile von Sekunden später rollte der Luftdruck der Explosion heran, das krachende Gepolter vor sich hertreibend. Die Rechnung des Oberkellners ging genau auf. Der Zug rollte weiter, während der Sprengstoff die Pfeiler zerriß. Dann entstand plötzlich mitten auf der Brücke ein riesiges Loch, und die hinteren Wagen neigten sich in dieses Loch. Die anderen, die bereits über die Stelle hinweg waren, wurden zurückgezerrt. Die Handgranaten rissen die Schienen unter den Rädern der Waggons weg, und die schweren Kolosse hatten mit einemmal keinen festen Grund mehr. Sie schoben sich taumelnd, knirschend und kreischend zusammen, legten sich auf die Seite, kippten unendlich langsam, einer nach dem anderen, einer den anderen ins Verderben ziehend, einer den anderen mit sich reißend. Das Poltern der aufeinanderprallenden Panzer erschütterte die Luft. Klatschend und mit donnerndem Getöse, sich überschlagend, rutschten sie die Böschung hinab und schlugen auf dem Grund des Flusses auf. Die Lokomotive bäumte sich auf. Ihr Kessel explodierte mit einem Schrei, der an einen menschlichen Laut erinnerte. Qualm, Wasserdampf und Feuerschein vereinigten sich über dem gewaltigen Trümmerhaufen; das klare, kalte
    Gesicht der Nacht beschmutzend, Funken stoben auf und verglommen rasch auf ihrem Flug gegen die unbeteiligten Sterne.
    Es wurde nicht still. Das Zischen des Dampfes hielt an. Ein feines Zischen, das sich mit dem Singen des Windes vermischte, kraftlos wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. Bindig fühlte sich am Ärmel nach hinten gezogen. Zado hatte die Maschinenpistole in der Hand. Er war bereit zum Aufbruch. „Jesus Maria", sagte er flüsternd, „Jesus, Maria und Josef, was dieser Knirps mit einem Koffer Sprengstoff anrichtet! Sie werden Wochen brauchen, bis sie das alles aufgeräumt haben..."
    Sie tasteten sich an den Bäumen vorbei, die Augen langsam an die Dunkelheit des Waldes gewöhnend.
    „Er weiß genau, was er macht", flüsterte Zado. „Er hat es so angelegt, daß der Zug nicht ganz hinunterstürzen konnte, denn sonst hätten sie den Haufen In ein paar Stunden weggeräumt und ... Los, nimm du die Karte. Irgendwo kommt da noch eine Landstraße, die wir überqueren müssen..."
    Klaus Timm hatte kein gutes Gefühl in dieser Nacht. Er hatte manche Nacht hinter der Front verbracht und sich zuweilen tagelang im Rücken der kämpfenden Truppen herumgetrieben. Er hatte Kreta erlebt und Sizilien. Und er hatte viele solcher Aufträge ausgeführt wie diesen heute nacht. Aber er hatte kein gutes Gefühl, als er mit den fünf Soldaten nach dem Waldrand ging, der die letzte Stelle war, von der aus man die Brücke sehen konnte. Es war alles zu glatt gegangen heute nacht. Es war jede Einzelheit so abgelaufen, wie sie im voraus berechnet war. Das war nie ein gutes Zeichen.

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