Die Stunde der Wahrheit
gern in einen auch kurzfristig anberaumten Auftritt einwilligen. Und ihr gesellschaftliches Ansehen würde als eine Person, die zum Vergnügen des Kriegsherrn neue Talente entdeckt hatte, deutlich wachsen. Viele würdige Musiker und Künstler verschafften sich möglicherweise so den notwendigen Mäzen und standen noch mehr in ihrer Schuld.
Almecho lachte. »Ihr seid sehr scharfsichtig, nicht wahr, kleines Vögelchen?« Seine Augen zogen sich zusammen. »Ich sollte vielleicht selbst auf Euch achtgeben. Keine Frau hat bisher das Weiß und Gold getragen, doch Ihr …« Der ernste Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand wieder. »Nein, mir gefällt Euer kühnes Angebot.« Er erhob seine Stimme zu den Gästen, die noch geblieben waren, um die letzten Entwicklungen mitzubekommen. »Wir brechen bei Morgengrauen auf und reisen auf die Ländereien der Acoma.«
Er verneigte sich leicht und trat, flankiert von den dunklen Silhouetten der Magier, rasch durch die Tür, Im gleichen Augenblick, da er verschwunden war, fand sich Mara inmitten stürmischer Aufmerksamkeit wieder. In dem Raum, in dem sie trotz des engen Handlungsspielraums einem Mordanschlag entkommen war, galt sie plötzlich nicht länger als eine sozial Ausgestoßene, als ein Mädchen, das dem Tode geweiht war. Die größten Familien des Kaiserreichs überschütteten sie mit Gratulationen, Ehrbezeugungen und Lob als eine Siegerin, die das Spiel des Rates beherrschte.
Maras Gefolgschaft wurde lange vor Tagesanbruch aus den Baracken der Minwanabi gerufen; sie trafen sich an Bord der Barke der Acoma mit ihrer Herrin. Während Land und Wasser noch tief im Dunkeln lagen, entfernte sich das Boot immer weiter von den Docks. Mara war zu aufgewühlt von den Ereignissen der Nacht, um an Schlaf auch nur zu denken, und so stand sie mit ihrer Ersten Beraterin und ihrem Supai an der Reling. Sie spürten die Abwesenheit Papewaios mit schmerzlicher Trauer und sahen zu, wie die erleuchteten Fenster im Herrenhaus der Minwanabi immer kleiner wurden. Die Nachwirkungen des Entsetzens und des unerwarteten Triumphes hatten Mara sowohl geschwächt als auch in eine seltsame Hochstimmung versetzt. Doch wie immer waren ihre Gedanken bereits weit voraus. Die gewöhnlichen Vorbereitungen wären nicht realisierbar, da der Kriegsherr und all die anderen Gäste unangekündigt am Herrenhaus eintreffen würden. Wider Willen lächelte Mara. Jican würde sich ganz sicher die Haare raufen, wenn er erfuhr, daß seine Leute dafür verantwortlich waren, die Geburtstagsfeier Almechos durchzuführen.
Die Barke wippte leicht hin und her, als die Sklaven die Staken gegen Ruder eintauschten und mit einem gleichmäßigen Schlag begannen. Hier und da sprachen Soldaten flüsternd miteinander; dann verstummte jede Unterhaltung, als der Himmel über dem See heller wurde. Achtern war eine farbenfrohe Flottille aus den Barken der Gäste zu sehen, die sich von der Gastfreundschaft der Minwanabi verabschiedet hatten. Nun, da die Wasserwege voller Zeugen waren, brauchte Mara einen Angriff von feindlichen, als Banditen verkleideten Kriegern nicht mehr zu fürchten; abgesehen davon war Desio wohl kaum dazu fähig, neben der Trauer und der Zeremonie um den rituellen Selbstmord seines Vaters einen solchen Versuch durchzuführen.
Als die goldene Sonnenscheibe sich über dem Tal erhob, bemerkten Mara und die anderen edlen Passagiere in ihren Barken das kleine Grüppchen von Soldaten auf dem Hügel in der Nähe des heiligen Hains der Minwanabi. Diese Männer standen zu Ehren Lord Jingus dabei, als er seinen ganzen Mut zusammennahm und sich in das eigene Schwert stürzte. Als die Männer in den orangefarbenen Rüstungen sich schließlich in Reihen formierten und im Gleichschritt zum Haus zurückkehrten, stieß Mara ein Dankesgebet an die Götter aus. Der Feind, der den Tod ihres Vaters und ihres Bruders – und beinahe auch ihren eigenen – herbeigeführt hatte, war endlich tot.
Nun, da Jingu nicht mehr war, hatten die Minwanabi nicht länger die Rolle als erste Macht nach dem Kriegsherrn inne, denn Desio war ein junger Mann mit nur ärmlichen gesellschaftlichen Gaben. Nur wenige betrachteten ihn als angemessenen Nachfolger seines Vaters; jene, die jetzt nach Süden in das Land der Acoma reisten, waren gemeinhin der Meinung, dass der Nachfolger des alten Lords es sehr schwer haben würde, die Allianzen, die sein Vater geschmiedet hatte, zu erhalten, ganz zu schweigen davon, die Macht der Minwanabi noch auszubauen. Jetzt
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