Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
ganz neue Wetten abschließen. Gabriel Tretjak hatte das Gehirn immer als eigenes Wesen betrachtet, bei sich selbst und bei anderen, ein Wesen, das im Kopf wohnte, das man sich zunutze machen konnte, meistens, nicht immer. Es dauerte eine ganze Weile, bis Tretjak an diesem Morgen sein Gehirn dazu brachte, die Karten auf den Tisch zu legen.
Seine Augen waren nicht verklebt, sie waren schon offen. Aber der Raum, in dem er sich befand, war stockfinster. Es war das Schlafzimmer im Haus seines Vaters. Und er lag im Bett seines Vaters, der seit einem Jahr tot war. Oben in der Küche schlug der Fensterladen, den man nicht festmachen konnte, gegen die Mauer. Es war Wind aufgekommen in der Nacht.
Er schloss die Augen wieder. Einen Moment wollte er bei den nassen Badeanzügen bleiben. Es kam nicht oft vor, dass ihn etwas aus seiner Kindheit nachts überfiel, und schon gar nicht aus der kurzen glücklichen Zeit dieser Kindheit – bevor die Katastrophen gekommen waren. Die Badeanzüge in der Umkleidekabine am Pool. Sein Bruder Luca hatte ihn immer wieder dort hingeschleppt. Ein kleines Holzhäuschen, reserviert für Hotelgäste, die schwimmen wollten. Es konnte immer nur von einer Person benutzt werden, man nahm seine Kleider nach dem Umziehen wieder mit. Doch mittags oder auch abends hängten die Gäste ihre nasse Badebekleidung an den Haken in der Kabine auf. Männer rechts, Frauen links. Luca und er lauerten kichernd hinter der Buchenhecke auf den richtigen Moment, dann schlichen sie hinein. Wie alt waren sie damals? Luca 15, er selbst sieben? Luca fasste die Anzüge an, fast ehrfürchtig, und er flüsterte ihm zu, welchen Frauen welches Teil gehörte: der großen Blonden mit dem Riesenbusen zum Beispiel, oder der Tochter der dicken Deutschen, der Frau des Millionärs mit dem Porsche … Der Geruch in dem Häuschen war eine Mischung aus Chlorwasser, von der Sonne aufgeheiztem Holz und dem Duft der Frauen, ihren Parfums und Cremes. Für die beiden Jungs das aufregendste Gemisch, das man sich vorstellen konnte. Gabriel Tretjak versuchte sich zu erinnern, was sein Bruder ihm im Traum gesagt hatte. Aber er sah immer nur das Bild vor sich: Luca, der sich in der Kabine zu ihm umdrehte, seine dunklen Augen und dass er plötzlich fast erschrocken aussah, bevor er sprach.
Tretjak richtete sich im Bett auf, stellte die Füße auf den Holzboden, schlüpfte in die Lederpantoffeln seines Vaters, des toten, des ermordeten Vaters. Er durchquerte den finsteren Raum, öffnete das Fester und stieß den dunkelgrünen Holzladen auf. Es war schon hell draußen. Er blickte auf die Uhr. 20 Minuten vor neun. In den ersten Wochen hier war er oft morgens einfach liegen geblieben. Eingemummelt in eine Decke und in ein Gespinst aus Gedanken und Gefühlen. In letzter Zeit zwang er sich dazu, aufzustehen und eine Art Tagwerk zu beginnen, eine Hecke zu schneiden zum Beispiel oder Brennholz zu hacken. Auch eine kleine Steinmauer hatte er hochgezogen und einen toten Baum gefällt. Solche Dinge kosteten an diesem Ort viel Kraft und Zeit.
Das kleine Bauernhaus, in dem sein Vater die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, befand sich in den italienischen Alpen. Es stand seit etwa hundert Jahren wie ein kleiner Turm im steilen Berg, direkt über dem Ort Maccagno am Lago Maggiore, dem großen Gletschersee. An seinen Ufern war es so warm, dass Palmen wuchsen, aber auf den Spitzen der Berge, die ihn umgaben, war es so kalt, dass der Schnee auch im Sommer liegen blieb. Das Haus bestand aus lediglich vier Räumen, Schlafzimmer und Bad im unteren Teil, darüber Wohnzimmer und Küche. Eine Steintreppe verband die beiden Ebenen. Von jedem Raum aus konnte man ins Freie treten, auf kleine Terrassen. Von der Küche aus blickte Tretjak jetzt direkt über den Herd auf den See. Es war ein warmer, klarer Herbsttag, Mittwoch, glaubte er zu wissen. Mittwoch, der 4. Oktober, so sollte es auch später in den Polizeiprotokollen festgehalten werden. Unten in dem kleinen Hafen fuhr ein Segelboot auf den See hinaus, ein weißes Segel auf dem weißlich glitzernden Wasser.
Die kleine Espressokanne aus Metall, die auf dem Herd stand, zischte jetzt und brodelte. Tretjak öffnete den Kühlschrank, holte eine Packung Milch heraus, goss sie in eine Tasse und schenkte darauf den heißen Kaffee. Dann setzte er die kleine Geschirrspülmaschine in Gang, in der ein paar benutzte Teller und Gläser der letzten Tage standen. Er zog die Jeans an, die über dem Stuhl hing, und ging
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