Die Stunde des Reglers: Thriller (German Edition)
man mal gar nicht mehr weiterweiß, dann sollte man mit Ihnen sprechen. Bitte, Herr Tretjak, sehen Sie sich das an und hören Sie mir zu.«
»Ihnen wurde gesagt … Das heißt, Luca hat das zu Ihnen gesagt?«
Sie nickte stumm.
Zweimal pro Woche sprach Tretjak mit seinem Therapeuten, schon seit über einem Jahr. Der Therapeut war ein Freund, Treysa hieß er, wie der Ort in Hessen, aus dem er auch stammte. Stefan Treysa. Er wohnte und arbeitete in München. Seit Tretjak sich hier oben verkrochen hatte, fanden die Sitzungen via Skype vorm Computerbildschirm statt. Mittwochs und freitags. Für heute Abend um 19 Uhr waren sie wieder verabredet. Immer wieder, wie ein Mantra, hatte Stefan Treysa wiederholt, dass Tretjak sich seiner Vergangenheit stellen müsse. Dass er mit seiner Methode, nach hinten immer alles abzuschneiden, nicht mehr weiterkomme, weil all die Dinge, die hinter ihm lägen, inzwischen wie Schlingpflanzen nach ihm griffen und ihn zu Fall bringen würden. Heute Abend um 19 Uhr würde Tretjak gelobt werden, weil er nicht die Flucht ergriffen hatte vor dem bloßen Namen seines Bruders. Ein Fortschritt, würde Stefan sagen. Aber war es das wirklich, ein Fortschritt?
In diesem Augenblick vibrierte Tretjaks Telefon in seiner Hosentasche. Es kam selten vor, dass er dranging. Meistens erkannte er schon an den Namen auf dem Display, dass es sich bloß um Echos aus seinem früheren Leben handelte, auf die er nicht die geringste Lust hatte. Der Name, der jetzt angezeigt wurde, gehörte zwar auch in die Vergangenheit, war aber eine Überraschung: Rainer Gritz, der Kriminalbeamte aus München, einer, der damals mit Tretjaks Fall befasst gewesen war. Nicht der Boss, aber der zweite Mann. Tretjak erinnerte sich an einen langen, relativ jungen Kerl, der für die Details zuständig gewesen war. Tagelange umständliche Ermittlungen in den Niederungen der Polizeiarbeit, das war seine Sache gewesen.
»Wollen Sie nicht rangehen?«, fragte Frau Welterlin, sichtlich froh über die Unterbrechung. Aber da hörte das Handy schon auf zu vibrieren. Tretjak steckte es zurück in die Hosentasche. Seine Motorsäge, die immer noch auf dem Terrassenboden lag, war ein schwedisches Fabrikat. Eine leuchtend rote Husqvarna mit 65 Zentimeter langem Sägeblatt. Tretjak stand von der Bank auf, nahm die Säge und durchquerte den Garten Richtung Schuppen, um sie dort zu verstauen. Er spürte, dass ihm die Blicke seiner Besucherin folgten. Als er zurückkam, setzte er sich wieder, lehnte sich zurück und sagte: »Schießen Sie los, Frau Professor.«
Drei Stunden später beobachtete Tretjak vom Küchenfenster aus, wie sich der wippende Strohhut wieder nach unten bewegte. Nach ein paar Minuten war er zwischen den Robinienbüschen verschwunden. Tretjak hatte sich Bedenkzeit ausgebeten, wie lange, darauf hatte er sich nicht festlegen wollen. Er hatte ihre Telefonnummern und all ihre Adressen, im Netz und im wirklichen Dasein.
Sophia Welterlin arbeitete am Europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf. Sie leitete dort ein Projekt mit dem charmanten Namen »Casimir«, da ihr Forschungsgegenstand in Zusammenhang stand mit dem sogenannten Casimir-Effekt, benannt nach seinem Entdecker, einem holländischen Physiker. Welterlins Team arbeitete an einer Frage, die schon lange durch die Köpfe, Rechner und Labore der Wissenschaftler geisterte: Musste die Zeit eigentlich immer nur in eine Richtung laufen? Immer nur von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft? Die Einstein’schen Gleichungen, die so oft recht hatten, ergaben auch eine andere Möglichkeit: die gegensätzliche Laufrichtung. Was bedeuten würde, dass man sich von der Gegenwart in die Vergangenheit bewegen konnte oder von der Zukunft in die Gegenwart. Die meisten Physiker hielten diese Möglichkeit nur für eine theoretische, die sich aus der Mathematik ergab, in der Praxis aber unsinnig war. Sie beriefen sich dabei auf die Paradoxien, die mit Zeitreisen verbunden waren: Was geschähe, wenn jemand in der Zeit zurückreiste und seine Eltern ermordete, bevor er selbst geboren wurde? Es gab aber auch eine Reihe von Physikern, die der Theorie und der mathematischen Präzision die größere Bedeutung zumaßen auf der Suche nach der Wahrheit.
»Und Sie?«, hatte Tretjak gefragt. »Auf welcher Seite stehen Sie?«
»Ich will herausfinden, wie es wirklich ist«, hatte Sophia Welterlin geantwortet. »Wenn die Zeit auch eine andere Richtung einnehmen kann,
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