Die Stunde des Venezianers
Prolog
K ÖNIGREICH F RANKREICH , F REIGRAFSCHAFT B URGUND B URG VON C OURTENAY
2. A UGUST 1356
Am Burggraben endete ihr Ritt. Violante von Andrieu zügelte ihre Stute und starrte auf die hochgezogene Zugbrücke. Aus der ersten Schießscharte des Wachturmes fiel eine Fahne über die Mauer herab. Kein Windhauch bewegte das schwarze Tuch. Ihre bösen Ahnungen wurden zur Gewissheit.
»Die Pest! Das darf uns Gott nicht antun, Jean-Paul!«
Jean-Paul suchte die Zinnen der Festung nach einem Lebenszeichen ab.
»Es gibt keinen Zweifel, Mutter, die Fahne spricht für sich. Und nirgendwo ein Torwächter. Courtenay ist ein Pesthaus. Deshalb hören wir seit Tagen nichts von Simon.« Jean-Paul stand am Beginn seines vierten Lebensjahrzehnts. Unter der Kappe mit der langen Reiherfeder schimmerten graue Schläfen. Er war drei Jahre jünger als sei Bruder Simon, der mit seiner Familie auf Courtenay lebte, Violantes elterlichem Erbe. Die ehemalige Grafschaft war seit einer Generation Teil des großen Lehens von Ardrieu.
»Ich will es einfach nicht glauben!«
Violante riss ihr Pferd auf den Hinterbeinen herum. Sie glich einer alterslosen Amazone, obwohl das Haar unter dem Gebände längst schneeweiß war. Ein Netzwerk von Falten furchte die Haut um Augen und Mund.
Seit dem Tod ihres Mannes Mathieu herrschte die fünfundsechzigjährige Gräfin mit straffer Hand über Land und Leute. Sie war eine kluge und warmherzige Herrin und hatte Simon gewähren lassen, dem als Ältestem die Wahl zustand, auf Courtenay zu leben. Sie ließ ihm die Freiheit und die Selbständigkeit, die ihm wichtig waren, und hielt sich aus seinen Entscheidungen heraus. Courtenay war bei ihm in guten Händen. Sie hatte ansonsten genug Schwierigkeiten im Gebiet von Andrieu. Die verheerende Pestepidemie von 1349 hatte zu viele Opfer gefordert. Ganze Dörfer waren entvölkert, und die Felder lagen brach. Es fehlte nicht nur an Bauern, sondern auch an Handwerkern, Jägern und Fischern. Dieses neuerliche Aufflackern der Pest würde den wirtschaftlichen Ruin von Andrieu bedeuten.
»Ruf den Torwärter!«, befahl Violante schroff. »Sie sollen die Zugbrücke für uns herablassen.«
»Selbst wenn sie es wollten, Mutter, es wäre gegen das Gesetz. Du kennst die Vorschriften. Häuser, in denen die Pest herrscht, müssen verschlossen werden.«
Sein Einspruch fand kein Gehör.
»Ruf den Torwärter! Ich verantworte das.«
»Mutter, wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen.«
»So ist es. Ich will es mit eigenen Augen sehen.«
Ehe er begriff, was sie im Sinn hatte, sprengte sie an ihm vorbei, den Weg zurück und an der nächsten Kreuzung zum Fluss hinunter, wo die Ruinen einer alten Mühle standen. Simon sprach manchmal davon, sie wieder in Betrieb zu nehmen, aber noch hatte er keinen neuen Müller gefunden.
Mit einem verzweifelten Fluch, der ebenso seiner Mutter wie den Umständen galt, folgte Jean-Paul. Es gab einen geheimen Weg in die Burg von Courtenay, und so wie es aussah, würde sie keinen Augenblick zögern, ihn zu gehen. Er begann hinter dem mächtigen Räderwerk der Mühle am Flussufer und endete in der Kapelle der Burg. Simon hatte dafür gesorgt, dass der Stollen gangbar blieb, obwohl es in den letzten Jahren keine kriegerischen Auseinandersetzungen in der Comté gegeben hatte.
Bevor Violante im Stollen verschwand, gelang es Jean-Paul, sie am Ärmel ihres Reitgewandes festzuhalten.
»Ich bitte Euch, Mutter. Nehmt Vernunft an. Bleibt. Ihr helft niemandem, wenn Ihr ebenfalls von der Seuche befallen werdet. Ihr dürft Euer Leben nicht in Gefahr bringen.«
»Ich muss es tun.« Violantes Stimme brach. Sie fasste nach Jean-Pauls Händen und drückte sie heftig, ehe sie tonlos fortfuhr. »Ich muss Klarheit haben. Vielleicht brauchen sie Hilfe!«
»Gegen die Pest gibt es keine Hilfe.«
»Das ist nicht wahr! Haben nicht die Ärzte des Papstes in Avignon Seine Heiligkeit vor der Pest bewahrt, indem sie ihn zwischen zwei Feuer setzten? Außerdem gibt es Arzneien, Pestpillen …«
»Mutter!« Jean-Paul schüttelte sie sanft. »Kommt mit nach Hause. Wir werden für Simon und die Seinen beten und Messen lesen lassen.«
»Lass mich.« Violante riss sich gewaltsam los. »Beten können wir immer noch, wenn wir sehen, dass alle anderen Mittel versagen.«
Jean-Paul hasste es, zu sehen, wie sie litt. Er wusste, dass Simon ihrem Herzen von all ihren Kindern am nächsten stand. Er akzeptierte es, weil Simon der Erstgeborene war. Außerdem war es schier unmöglich,
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