Die Stunde des Venezianers
vor Durst verrückt, ehe der Wahnsinn und das unausweichliche Ende folgen. Sieh mich an! Das Fieber ist bereits in mir.«
Violante prüfte erschrocken Aimées Stirn. Der Kopf des Kindes fühlte sich kühl an, lediglich die Wangen waren feucht von Tränen. Sie hätte am liebsten mitgeweint. Jetzt erst begriff sie, dass Simon flach auf den Steinen gelegen hatte, weil er die Schmerzen in seiner Brust kaum noch ertragen konnte. Er kämpfte gegen den aufkommenden Husten an. Es zerriss ihr das Herz, sein Leid nicht lindern zu können.
»Geht, Mutter«, bat er heiser. »Geht, ehe auch Ihr unser Schicksal teilt. Wir stehen in Gottes Hand. Gib deine Großmutter frei, Aimée. Sie muss fort. Wir dürfen sie nicht halten.«
Wie er seinem Vater glich, schoss es Violante durch den Kopf, und der Gedanke berührte sie ebenso wie er sie erzürnte. Nie hatte sie ihren Söhnen gestanden, dass sie verschiedene Väter hatten. Es würde für immer ein Geheimnis zwischen ihr und Mathieu bleiben. Der Zorn gab ihr die Kraft zum Widerspruch.
»Gott hätte mehr als alle Hände voll zu tun, wollten wir, dass er sich um jedes einzelne Schicksal kümmert! Wir Menschen müssen schon das unsere dafür tun, zu überleben«, sagte sie schroff und hinderte Aimée daran, sich abzuwenden. »Aimée kommt mit mir. Je schneller sie reine Luft atmet, umso besser ist es.«
»Nehmt Vernunft an, Mutter. Es ist verboten, ein Pesthaus zu verlassen. Streng genommen müsste ich Euch jetzt gewaltsam daran hindern, zu gehen. Aber meine Tochter …«
Mutter und Sohn maßen einander mit Blicken. Sie wusste ohne Worte, weshalb es seinem Einspruch an Kraft fehlte. Er wollte Hoffnung, Sicherheit und Leben für sein Kind, obwohl sein Moralgefühl ihm Rücksichtnahme auf andere befahl.
»Ich darf es nicht zulassen«, entsagte er den eigenen Wünschen. »Ich würde den Tod nach Andrieu schicken. Jean-Paul, seine Frau und seine Kinder, alle wären dort in Gefahr.«
»Sorge dich nicht. Ich werde Vorsichtsmaßnahmen für Aimée und mich ergreifen, und wir werden die Burg meiden und deinem Bruder und seiner Familie nicht zu nahe kommen, wenn Ansteckungsgefahr besteht.«
»Und wenn es dafür längst zu spät ist? Der Kaplan sagt, dass uns der Himmel die Pest als Strafe für unsere Sünden geschickt hat!«
»Der Kaplan.« Violantes tiefsitzende Abneigung gegen die Männer der Kirche prägte ihre Antwort. »Welche Sünden kann Aimée schon auf sich geladen haben, welche dein Sohn, den der Tod aus der Kinderwiege geholt hat, und welche Anne-Marie in ihrer Güte? Sind ausgerechnet sie für die Erbsünde bestraft worden?«
Ihre Stimme hallte hart von den Steingewölben wider, und Simon bekreuzigte sich erschrocken.
»Ihr lästert Gott, Mutter.«
Wie ähnlich er doch seinem Vater ist, dachte sie wieder. Violante sehnte sich schmerzlich danach, ihn wie Aimée in die Arme zu schließen und zu beschützen. Ihn so zu verlieren, von Weihrauchschwaden umhüllt, einsam vor dem Altar liegend, schien ihr mit einem Male tatsächlich die Strafe für die weit zurückliegende Sünde zu sein, die ihm das Leben geschenkt hatte. Die Kirche obsiegte.
Simon wandte sich keuchend ab. Seine Schultern zuckten krampfhaft, als er würgend dem unerträglichen Hustenreiz nachgab.
»Ich bitte Euch, geht!«
Seine Worte waren kaum noch zu verstehen.
Neben Violante erlosch zischend eine Kerze. In die Kräuter- und Duftwolke mischte sich ein neuer ekelerregender Geruch. Der Pesthauch?
»Herr, erbarme dich meiner. Christus, erbarme dich meiner. Herr, erbarme dich meiner.«
Das Gebet ihres Sohnes im Ohr, schob sie ihre Enkelin an dem Tafelbild vorbei in den Gang hinaus. Wenn sie Aimée retten wollte, musste sie Simon im Stich lassen. Welch schreckliche Entscheidung.
»Mein Sohn der Liebe, ich werde in der Stunde deines Todes bei dir sein und dir bald ins Himmelreich folgen. Du lebst in deiner Tochter weiter, dessen sollst du gewiss sein.«
Mit diesen Worten verschloss sie die Öffnung des geheimen Ganges.
»Großmama? Warum kommt Vater nicht mit uns? Muss er auch sterben?«
Violante schüttelte hilflos den Kopf und drängte das Kind vorwärts. Sie murmelte Trostworte, wohl wissend, dass sie weder ihr noch Aimée halfen. Irgendwann verstummte sie, weil sie keine Worte mehr fand. Am Ende des Ganges empfing sie Jean-Paul.
Er stellte keine Fragen. Seine Mutter schien in wenigen Stunden um Jahre gealtert. Er ahnte das Schlimmste, und Aimées kalkweißes Gesicht bestätigte seine Befürchtungen
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