Die Stunde des Venezianers
gemeinsam drängten, ließ sein Herz schneller schlagen. Als Erstes entdeckte er Abraham ben Salomon. Er hatte vor zwei Jahren die älteste Tochter des Arztes Nathan Simonides geheiratet und bewohnte das Haus am Walplein mit ihr. Seine Anwesenheit gab ihm Gewissheit, dass seine junge Frau und vielleicht auch deren Vater bei Aimée waren.
Das alles konnte nur eines bedeuten: Aimée lag in den Wehen.
Eine Stimme übertönte den Lärm in der Halle. Lison beugte sich in der ersten Etage über das Geländer nach unten. »Es ist da! Frau Contarini hat einen gesunden Knaben zur Welt gebracht.«
Sie deutete eine Reverenz an, und strahlte über das ganze Gesicht, als sie Contarini erblickte.
Ohne sich aufhalten zu lassen, stürmte Domenico, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf in das Gemach, wo die Wehmutter soeben Aimée in das frisch bezogene Bett half, während die Mägde den Gebärstuhl zur Seite rückten. Entrüstete Aufschreie protestierten gegen sein Eindringen, aber das kümmerte ihn nicht. Für ihn existierte nur Aimée, die, in ein frisches Hemd gekleidet, sichtlich erschöpft, aber durchaus gesund wirkte.
»Du kommst zur rechten Zeit, Domenico«, sagte sie mit leuchtenden Augen. Sie deutete auf das Kind, das der Doktor soeben in warme Tücher hüllte. »Begrüße unseren gesunden, kräftigen Sohn.«
Domenico zögerte unschlüssig. Wem sollte er sich zuerst zuwenden? Seiner Frau oder dem Kind? Neugeborene waren so zart und empfindlich. Die Erinnerung an seine winzige Tochter, die wachsbleich und mit bläulichen Lippen in ihrem Kissen gelegen hatte, entschwand jedoch augenblicklich beim Anblick des krebsroten, brüllenden Kerlchens, das ihm der Arzt einfach in die Arme legte. Ein Schopf seidiger schwarzer Haare und viel Geschrei bewiesen ihm, dass dieser hier bereit war, den Kampf des Lebens aufzunehmen.
Sein stolzer Blick ging zu Aimée. Zufrieden lag sie in den Kissen und streckte die Arme nach ihrem Kind aus. Der Kleine verstummte, sobald sein suchender Mund die Mutterbrust gefunden hatte.
Erst viel später, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte und die Glückwünsche überbracht worden waren, konnte er sie beide im Arm halten. Arzt wie Wehmutter hatten ihm versichert, dass er sich um Mutter und Kind keine Sorgen zu machen brauche und Aimée sich in Kürze von den Strapazen erholt haben würde.
»Warum hast du nicht nach mir geschickt?«, fragte er in mildem Vorwurf.
»Du hättest mir nicht helfen können. Es ging auch so überraschend schnell. Es schmälert deine Sorge um uns nicht, dass du währenddessen die Interessen des Hauses Cornelis-Contarini vertreten hast. Wie war das Bankett? Hast du mit dem Herzog gesprochen?«
Ihre Fragen überzeugten ihn mehr als alle anderen Versicherungen, dass es ihr tatsächlich gutging.
»Sowohl der Herzog wie die Herzogin schicken dir ihre Grüße. Der Waffenstillstand ist unterzeichnet. Wir haben Frieden. Hoffen wir, dass er einige Zeit anhält. Außerdem besitzt unser Sohn seit heute das verbriefte Recht, die Farben des Hauses Burgund zu tragen. Wie werden wir ihn nennen?«
Zärtlich berührte Aimée die seidigen Haare des Kindes. Nie hatte sie etwas Schöneres und Vollkommeneres gesehen, schien ihr. Sie überließ sich, bevor sie antwortete, für einen langen Augenblick ganz der Macht der Gefühle, die sie für den Sohn und seinen Vater empfand.
»Simon, nach meinem Vater und meinem Großvater, wenn du einverstanden bist.«
»Simon Contarini aus dem Hause Cornelis-Contarini«, stimmte Domenico bewegt zu.
ENDE
Anmerkungen
Der Friede
Der Friede, der 1375 am Fest Mariä Verkündigung in Brügge zwischen den kriegführenden Parteien geschlossen wurde, hielt nur zwei Jahre, dann flammten die Kämpfe wieder auf. Mit großen Pausen dauerten die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und England bis 1453. Sie gingen unter der Bezeichnung ›Hundertjähriger Krieg‹ in die Geschichte ein.
Philipp der Kühne
Philipp übernahm 1384, nach dem Tod seines Schwiegervaters Ludwig von Male, die Herrschaft über Flandern. 1396 trug er wesentlich dazu bei, dass ein weiterer Waffenstillstand mit England vereinbart wurde, der dieses Mal sogar achtundzwanzig Jahre dauerte.
Mit seiner Regierungszeit begann das Zeitalter der ›Großen Herzöge‹, das Burgund und Flandern zu einer einzigartigen kulturellen und wirtschaftlichen Blüte führte. Seiner Heirats- und Erbpolitik gilt noch heute die Bewunderung der Historiker. Sein Ziel war ein
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