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Die Sturmfluten des Frühlings

Die Sturmfluten des Frühlings

Titel: Die Sturmfluten des Frühlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernest Hemingway
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auf, um dort Arbeit zu suchen. Chicago, das war der richtige Ort. Sehen Sie sich die geographische Lage an, direkt am Ende des Michigan-Sees. Chicago hatte eine große Zukunft vor sich. Jeder Dummkopf konnte das sehen. Er würde dort, wo jetzt die Loop, die große Geschäfts-und Fabrikationsgegend ist, Land kaufen. Er würde das Land billig kaufen und dann darauf sitzen. Sie sollten nur versuchen, es ihm abzuluchsen. Er war nicht von gestern.
    Er ging allein, barhäuptig, während der Schnee ihm durch sein Haar blies, die G.R.&I.-Eisenbahngleise entlang. Es war die kälteste Nacht, die er je erlebt hatte. Er hob einen leblosen Vogel auf, der erstarrt und auf die Eisenbahnschienen gefallen war, und steckte ihn in sein Hemd, um ihn zu erwärmen. Der Vogel kuschelte sich an seinen warmen Körper und pickte dankbar an seiner Brust. «Armer kleiner Kerl», sagte Scripps. «Auch du fühlst die Kälte.»
    Tränen traten ihm in die Augen.
    «Verdammter Wind», sagte Scripps und bot von neuem dem Schneetreiben die Stirn. Der Wind blies direkt vom Lake Superior her. Die Telegrafendrähte über Scripps’ Kopf sangen im Wind. Durch die Dunkelheit sah Scripps ein großes gelbes Auge auf sich zukommen. Die riesige Lokomotive kam näher durch den Schneesturm. Scripps trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Was sagte doch noch der alte Tintenkleckser, der Shakespeare, ‹Macht geht vor Recht›? Scripps dachte an dieses Zitat, während der Zug in der schneeigen Dunkelheit an ihm vorüberfuhr. Zuerst kam die Lokomotive vorbei. Er sah, wie sich der Heizer bückte und große Schaufeln voll Kohle durch die offene Feuerungstür warf. Der Lokomotivführer trug eine Schutzbrille. Sein Gesicht wurde vom Licht aus der offenen Tür des Heizraums erhellt. Er war der Lokomotivführer. Er war es, der seine Hand am Drosselventil hatte. Scripps dachte an die Chicagoer Anarchisten, die, als man sie henkte, sagten: «Wenn ihr uns auch heute erdrosselt, könnt ihr doch nicht unseren Seelen dies und das und jenes tun.» Auf dem Waldheim-Friedhof, direkt neben dem Vergnügungspark von Forest Park in Chicago stand ein Denkmal, wo sie begraben waren. Der Vater pflegte Scripps sonntags dorthin mitzunehmen. Das Denkmal war ganz schwarz, und auf ihm stand ein schwarzer Engel. Das war damals, als Scripps ein kleiner Junge war. Er pflegte seinen Vater oft zu fragen: «Vater, warum können wir denn nicht, wenn wir sonntags die Anarchisten besuchen, nachher mit der Berg-und Talbahn fahren?» Die Antwort seines Vaters hatte ihn nie befriedigt. Damals war er ein kleiner Junge in Kniehosen gewesen. Sein Vater war ein großer Komponist gewesen. Seine Mutter war eine Italienerin aus Norditalien. Das sind seltsame Leute, diese Norditaliener.
    Scripps stand neben den Gleisen, und die langen schwarzen Abschnitte des Zugs ratterten im Schnee an ihm vorbei. Es waren alles Pullmanwagen. Die Rouleaus waren heruntergezogen. Das Licht schien durch den schmalen Spalt unter den dunklen Fenstern, als die Wagen an ihm vorbeikamen. Der Zug donnerte nicht, wie er es vielleicht getan hätte, wenn er in der entgegengesetzten Richtung gefahren wäre, weil er die Boyne Falls-Steigung hinaufkletterte. Er fuhr langsamer, als wenn es bergab gegangen wäre. Dennoch fuhr er zu schnell für Scripps, um sich hinaufzuschwingen. Er dachte daran, wie er einst als kleiner Junge in Kniehosen Fachmann im Aufspringen auf Lebensmittellastwagen gewesen war.
    Der lange schwarze Zug von Pullmanwagen fuhr an Scripps vorüber, während er neben den Gleisen stand. Wer war in diesen Wagen? Waren es Amerikaner, die, während sie schliefen, Geld anhäuften? Waren es Mütter? Waren es Väter? Waren Liebespaare darunter? Oder waren es Europäer, Angehörige einer abgewirtschafteten Zivilisation, weltmüde vom Krieg? Scripps wußte nicht recht.
    Der letzte Wagen kam an ihm vorbei, und der Zug fuhr weiter, die Gleise entlang. Scripps beobachtete das rote Licht am Ende des Zugs, wie es in der Dunkelheit, in der die Schneeflocken jetzt sacht herabfielen, verschwand. Der Vogel flatterte unter seinem Hemd. Scripps begann von neuem auf den Schwellen zu gehen. Wenn möglich wollte er in dieser Nacht bis Chicago kommen, um am Morgen mit der Arbeit anzufangen. Der Vogel flatterte von neuem. Jetzt aber nicht mehr so schwach. Scripps legte die Hand über ihn, um sein kleines Vogelflattern zu besänftigen. Der Vogel beruhigte sich. Scripps schritt weiter auf den Gleisen.
    Letzten Endes brauchte er ja gar nicht bis nach

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