Die Sturmrufer
sich nur auf den Fuß des Turms, der immer näher kam. Zum ersten Mal bemerkte sie, dass ein Stück Klippe abgebrochen sein musste und direkt unter dem Turm ins Meer gerutscht war. Früher mochte jemand mit guten Nerven direkt an der Felskante um den Turm herumspaziert sein. Ein letzter Rest einer steinernen Mauer zeugte davon. Amber zog sich ein Stück weiter hoch und tastete nach dem nächsten Vorsprung. Weit unten schäumte das Meer wie ein wütendes Tier. Gesteinsbrocken lösten sich unter ihrem Fuß und Amber gab nach und hing einige Augenblicke nur an den Fingern ihrer rechten Hand über dem Abgrund. Fels schabte über ihre Wange. Ihre Muskeln brannten, als sie sich hochzog und mit der zweiten Hand ein Stück tiefer in die Felswand griff. Am Rand ihres Blickfelds erahnte sie Inus blasses Gesicht und sie machte mit der freien Hand eine beruhigende Geste.
Wenig später erreichte sie die ersten Mauersteine des Turms und atmete auf. Ab hier war es einfacher. Die verwitterten Steine boten genug Ritzen, sodass sie sich Hand über Hand hocharbeiten konnte. Die Sonne brannte ihr auf Schultern und Arme.
Völlig außer Atem erreichte sie das Fenster und erinnerte sich mit einem Schaudern daran, dass die Kreatur vor einigen Tagen an derselben Stelle gehangen hatte, um einen Blick in das Innere des Turmzimmers zu werfen. An den Steinen entdeckte sie sogar noch die Spuren von Krallen und frische Bruchstellen. Jetzt konnte sie doch nicht verhindern, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug. Vorsichtig zog sie sich neben das Fenster hoch, fand sicheren Halt und spähte in den Raum. Er war leer. Die Tür hing zerbrochen in den Angeln. Kein Geräusch deutete darauf hin, dass sich jemand in der Halle oder auf der Treppe befand. Amber spannte die Arme an und schwang sich mit einem sehr kontrollierten Schwung auf das Fensterbrett. Lautlos landete sie auf dem verwitterten Holz und verharrte in der Hocke, lauschend, bis sie ganz sicher sein konnte, dass sich nichts rührte. Dann kletterte sie in den Raum und atmete durch. Nach all der Anspannung floss nun Wärme durch die Muskeln. Ihre Hände zitterten noch von der Anstrengung, als sie das Seil um ihrer Hüfte aufknotete und um einen stabilen Balken festzurrte. Auf ihr Zeichen hin straffte sich das Seil bald darauf und ächzte unter einem schweren Gewicht. Amber beugte sich weit aus dem Fenster und spähte nach rechts. Inu kroch, vom Seil gehalten, über die Klippen. Noch konnte er sich waagrecht halten. Aber sobald er unterhalb des Turms sein würde, musste sie ihn hochziehen. Über sich hörte sie die Vögel auf dem Dach hin und her trippeln. Amber brach der Schweiß aus. »Bleibt, wo ihr seid«, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Die Vögel scharrten ein wenig und hielten dann tatsächlich wieder still. Quälend langsam erreichte Inu die Stelle unterhalb des Turms und fand eine Position, in der das Seil nicht mehr so straff gespannt war. Amber sprang zum Balken und lockerte die Schlinge. So wie Inu es ihr gezeigt hatte, führte sie das Seil um einen eisernen Haken, an dem vor einigen Tagen noch der größte und schwerste Käfig gehangen hatte, und dann um ihre Hüfte. Jetzt brauchte sie sich nur fallen zu lassen, um ein Gegengewicht zu Inu zu bilden. Das Seil ruckte und Amber legte sich in das Seil.
Es dauerte lange – viel zu lange. Mehr als einmal schnappte Amber erschrocken nach Luft, als der Zug plötzlich nachließ.
Nach einer Ewigkeit, wie es ihr schien, hörte sie Inus schweren Atem, dann sah sie eine Hand auf dem Fensterbrett. Amber spannte das Seil noch einmal und half Inu damit über das Fensterbrett. Der Seiler war totenblass.
»Und das machst du jeden Tag in den Bergen?«, flüsterte er und ließ sich erschöpft auf den Boden sinken. Ambers Kehle war so trocken, dass sie kein Wort herausbrachte. Gemeinsam warfen sie das Führungsseil wieder aus dem Fenster und warteten auf Sabin. Die Taucherin hielt sich erstaunlich gut an der Felswand, und Amber und Inu zogen gemeinsam so stark an, dass die zierliche Gestalt ihnen beinahe entgegenflog.
»Die Waffen!«, flüsterte Amber und verteilte die Stöcke.
Es war schwierig, die Treppe hinunterzugehen, ohne ein Knarren zu verursachen. Amber umklammerte ihren Stock und spähte in die Halle. Die Kisten standen dort noch so, wie sie sie gestern vorbereitet hatten. Sabin zog scharf die Luft ein. Auch Amber gab es einen Stich, sie musste stehen bleiben und tief durchatmen. Im selben Augenblick spürte sie, wie Inu
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