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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Fehlverhalten fiel, das einem Therapeuten nicht angemessen war. Sosehr er es zu vermeiden suchte, schlüpfte er doch in eine Vaterrolle gegenüber dem jeweiligen Menschen, der ihm auf dem Stuhl gegenüber saß und ihm Einblick in seine Psyche gewährte, der Rat, Trost, Hilfe bei ihm suchte, der ihn für einige Zeit zur obersten Instanz in Fragen der Lebensbewältigung erhob. Wenn er sie dann hinausschicken mußte aus den beschützenden Mauern seines Hauses, wenn er sie wieder der Welt und dem Leben und allen damit verbundenen Unwägbarkeiten überantworten mußte, war es ihm, als risse er sich seine Kinder vom Herzen und werfe sie in einen Fluß - letzten Endes immer unsicher, ob sie schwimmen konnten. Wenn er in der Verfassung war, besonders hart mit sich ins Gericht zu gehen, dann warf er sich vor, sich mit der angeblichen Angst um das weitere Schicksal seiner Schützlinge etwas in die eigene Tasche zu lügen - denn wenn es auch nicht hätte sein dürfen, daß er seine Patienten als Kinder empfand, so trug dieses Gefühl doch den schönen Mantel der Sorge, des Mitgefühls, der Verantwortung. Weit schlimmer und unverzeihlicher wäre es, wenn er es in Wahrheit nicht ertrüge, seinen Einfluß zu verlieren, nicht länger der Anker zu sein, an den sie sich
klammerten. Wie größenwahnsinnig wurde man hier in der Abgeschiedenheit der Klinik, hinter den hohen Mauern, in denen man Vater, Mutter, Gott für die Patienten war?
    Warum bedrückte ihn gerade das Schicksal des Maximilian Beerbaum? Weil er die schweren Probleme kannte, die auf den jungen Mann zukamen, wenn sich sein Vater tatsächlich fortdauernd gegen ihn sperrte? Oder weil er einen Patienten gehen lassen mußte, der sich nie wirklich an ihn geklammert hatte, nicht in den ersten beiden Jahren seiner schlimmen Depressionen (da hatte er nach Mutter und Bruder verlangt), und nicht später, als er gesundete. Im Gegenteil, manchmal hatte er mit seiner zynischen Intelligenz eine Mauer zwischen ihnen errichtet, hatte häufig eine spöttische Distanz zu seinem Therapeuten herausgekehrt. Kratzte Maximilian Beerbaum - so stolz er auf seine glänzende Entwicklung als »Fall« sein konnte - als Mensch an seinem, Echingers, Selbstwertgefühl?
    Der Gedanke war zutiefst beunruhigend. Und bei aller harten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber würde er diese Frage nicht befriedigend lösen können. Wann aber gab die menschliche Seele je auf irgend etwas eine befriedigendeund er hätte befriedigend in diesem Fall als eindeutig definiert - Antwort?
    Vielleicht lag dies seiner Müdigkeit zugrunde: die lebenslange Beschäftigung mit einer Wissenschaft, die im strengen Sinne keine Wissenschaft war. In der zwei und zwei nicht vier, sondern fünf oder acht ergaben. In der das Nachdenken über die Psyche, die eigene oder fremde, leicht in neurotisches und nie endenwollendes Zerfleischen führen konnte.
    Es macht müde, dachte er, es macht müde, nie eine Antwort zu finden.
    Er schloß die Augen.

    Andrew Davies wohnte noch immer in der kleinen Stadtwohnung in Chelsea, deren Adresse er Jahre zuvor Janet als sein letztes Lebenszeichen nach Deutschland geschrieben hatte.
    Als Janet am Abend zuvor von Maidstone aus bei ihm angerufen hatte, war sie fast überzeugt gewesen, daß sich irgendein Fremder melden und sie erfahren würde, daß Andrew schon vor langer Zeit fortgezogen war. Als sie seine Stimme - unverkennbar - »Hello?« sagen hörte, blieb ihr vor Überraschung die Sprache weg. Erst als von Andrew ein ärgerliches »Wer ist denn da?« kam, faßte sie sich wieder.
    »Ich bin es. Janet.«
    Nun schwieg Andrew. Nach einer Weile fragte er ungläubig: »Janet? Das gibt es doch nicht!«
    »Doch. Ich bin zufällig gerade in England, und da dachte ich, ich rufe dich an.«
    »Bist du hier in London?«
    »Nein, in Maidstone. Ich komme aber morgen früh nach London.« Sie würde zwar noch heute nacht in London eintreffen und sich ein Hotel suchen, aber er sollte nicht den Eindruck haben, überfallen zu werden.
    »Morgen früh?« Er überlegte. »Du meinst, wir könnten uns treffen?«
    »Ja. Wenn du Zeit hast.«
    »Morgen den ganzen Tag über leider nicht. Aber ich wäre so ab halb sechs abends frei. Bist du da schon wieder weg?«
    Janet überlegte, ob er sie im Grunde vielleicht gar nicht sehen wollte und nur in der Hoffnung, sie wäre dann schon nicht mehr da, den nächsten Abend anvisiert hatte. Sie beschloß, das Risiko einzugehen.
    »Ich bleibe länger in England«, sagte sie, »ich hätte

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