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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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also Zeit.«

    Andrew wirkte aufrichtig erfreut. »Dann paßt es doch gut. Wo wollen wir uns treffen?«
    »Ich könnte dich einfach abholen. Um sechs Uhr.«
    »Okay. Janet - ich freue mich!«
    Dann hatten sie das Gespräch beendet, und Janet war noch bis London gefahren, hatte den Wagen zurückgegeben und sich ein Hotelzimmer genommen. Am nächsten Morgen stellte sie fest, daß sie, wenn sie wirklich länger bleiben wollte, dringend ein paar Kleidungsstücke und vor allem Wäsche zum Wechseln kaufen mußte. Ihre Kreditkarte lief auf ihr und Phillips gemeinsames Konto, und sie konnte sich vorstellen, daß er nicht begeistert sein würde, wenn sämtliche Ausgaben ihres ungeplanten England-Trips abgebucht würden, aber sie verdrängte den Gedanken daran. Sie ging wieder zu Harrod’s, kaufte Wäsche, Strümpfe, ein paar feste Schuhe, Jeans, zwei Pullover und ein Kleid. Wann immer sie drohte, in Grübeleien über Phillip und Mario zu versinken, befahl sie sich sofort, sich mit etwas völlig anderem zu beschäftigen - zum Beispiel, mit einem indiskutablen Kleid in einer Umkleidekabine zu verschwinden und sich hineinzuquälen, nur um über das viel zu aufreizende Dekollete zu lachen und sich einen Moment lang zu fragen, ob es wirklich Frauen gab, die sich damit in die Öffentlichkeit wagten. Auf diese Weise schaffte sie es, sich bis zum Nachmittag von all den ungelösten Problemen daheim abzulenken, und dann war sie so nervös wegen der bevorstehenden Begegnung mit Andrew, daß sie ohnehin an nichts anderes mehr denken konnte.
    Sie fand auf einmal, daß sie völlig unattraktiv aussah. Das Kleid, das sie sich gekauft hatte, stand ihr nicht, es wirkte altbacken und bieder. Ihre Haare schienen stumpf und strähnig. Ihre Augen sahen müde aus. Ängstlich faßte sie sich an den Hals, tastete mit den Händen, suchte
mit dem Blick gnadenlos nach jeder Falte. Sie hatte nie zu den Frauen gehört, die sich in Angst vor dem Älterwerden verzehren, aber jetzt kam ihr zu Bewußtsein, daß sie fünfundzwanzig gewesen war, als Andrew sie zuletzt gesehen hatte - fünfundzwanzig, sehr sexy, sehr aufreizend und dann und wann ziemlich schamlos.
    »Und heute bist du dreiundvierzig«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Warum gehst du überhaupt zu diesem Mann?«
    Das schien ihr eine gute Frage. Sie hatte sich sowieso unmöglich benommen. Andrew hatte überlegt, wo sie sich treffen könnten, und sie hatte sofort gesagt, sie werde zu ihm in die Wohnung kommen. Gehörte sich das - selbst wenn man mit dem betreffenden Mann die wahnsinnigsten Nächte seines Lebens verbracht hatte?
    »Ich werde einfach nicht hingehen«, sagte sie sich, »er weiß nicht, in welchem Hotel ich bin, also kann er auch nicht anrufen und fragen, wo ich bleibe. Er wird genauso kaltgestellt wie Phillip.«
    Aber Andrew war eben nicht Phillip, und Janet hatte ihn schon immer anders behandelt. Andrew wurde nicht einfach ohne Absage sitzengelassen, sowenig, wie sie ihn je mit ihren Launen traktiert, mit Gebrüll entnervt, mit zähem Schweigen zerrüttet hatte. Phillip hatte Türenschlagen, Tränenströme, zerworfenes Geschirr und wochenlange sexuelle Verweigerung für ein einziges falsches Wort abbekommen; Andrew war von ihr noch mit Samthandschuhen angefaßt worden, als er sie schon fortlaufend betrogen und erniedrigt hatte.
    Und so machte sich Janet auch jetzt auf den Weg, nachdem sie sich mit einem Piccolo aus der Minibar noch etwas Mut angetrunken hatte. Sie ließ sich mit dem Taxi bis zum Chelsea Embankment bringen und ging dann zu Fuß am Fluß entlang, bis zum Cheyne Walk. Der warme Maiabend
bewirkte, daß sie sich sofort besser fühlte. Es hatte den ganzen Tag nicht mehr geregnet, und es war seit gestern deutlich wärmer geworden. Die Bäume standen in voller Blüte, und ihre Zweige spielten im Wind, es roch nach Fluß und Algen, und auf der Themse schaukelten weiße Boote. Das goldfarbene Abendlicht lockte viele Menschen zu einem Spaziergang: Herren in grauen Anzügen, die auf dem Heimweg von ihren Büros waren; Liebespaare, die engumschlungen unter den Bäumen wandelten; ältere Leute, die auf den Bänken dösten; Kinder, die spielten oder mit ihren Skateboards fuhren. Janet bog in die Old Church Street ab. Als sie die King’s Road erreichte, war sie blendender Laune, fing an, sich schön zu finden, sich mit dem Kleid, das sie trug, auszusöhnen. Empfindungen erwachten in ihr, die so lange verschüttet gewesen waren, daß Janet sie schon längst vergessen geglaubt

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