Die Sündenheilerin (German Edition)
Ludovika vergaß für einen Moment ihre übliche Mäßigung und langte kräftig zu. Sie lagerten auf einer breiten Lichtung inmitten des finsteren Waldes. Die Reiter stiegen ab, ließen die Pferde grasen und sich ebenfalls von Gerdas guten Gaben verwöhnen. Die Männer scherzten, die Mägde lachten, nur Lena hatte das Gefühl, ihr Magen sei wie zugeschnürt. Viel zu lange kaute sie auf einer der Pasteten herum, nur um nicht aufzufallen. Sie versuchte, sich einzureden, ihre Unruhe liege in der Erwartung begründet, die alle in sie setzten. Doch zugleich wusste sie, dass sie sich selbst belog. Es war der Wald, der sie ängstigte. Und die Aussicht auf die Bode machte es nicht besser. Hohlwege, am Fluss entlang, Stromschnellen und Felsen, die menschlichen wie tierischen Bestien Deckung boten.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreichten sie Burg Birkenfeld. Mit der Sonne war auch die Wärme verschwunden, doch nicht nur deshalb fröstelte Lena. Der schmale Burgweg führte unmittelbar an der Bode entlang. Ihr wildes Rauschen mischte sich mit dem Poltern der Räder. Mehr als einmal neigte der Wagen sich bedenklich, doch außer ihr schien es niemand zu bemerken. Was wäre, wenn die Räder aus der Spur gerieten? Würden sie in die Bode stürzen?
Die Zugochsen schnauften angestrengt, als sie den Wagen den steilen Hügel hinaufzogen. Da erst wagte Lena den Blick vom Fluss abzuwenden und sah zur Burg hinauf, die sich hoch über ihr erhob. Sie hatte sich Birkenfeld größer vorgestellt, dennoch löste der Anblick des Gebäudes ein eigenartiges Unbehagen aus. War es der Turm, der alles überragte? Waren es die hohen Mauern? Eigentlich gab es keinen Grund zur Furcht, im Gegenteil, die Festung bot ihr Schutz. Gleichwohl zogen sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen.
Die Pferde trabten eilig durch das äußere Tor in den Vorhof, auch die Ochsen zogen noch einmal kräftig an. Lena wurde nach vorn geworfen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Diesmal war auch Ludovika zusammengeschreckt, nur die beiden Mägde blieben unbeeindruckt. Rasch ging es vorbei an den Unterkünften des Gesindes und den Wirtschaftsgebäuden. Aus einigen der Fachwerkhäuschen drang ein schwacher Lichtschein hervor, war aber nicht stark genug, um mehr als einen Schatten sichtbar zu machen. Erst als sie das innere Tor erreichten, wurde es heller; zu beiden Seiten des Durchlasses steckten brennende Fackeln in eisernen Wandhalterungen. Ob sie wohl jede Nacht brannten oder nur heute, da sie erwartet wurden? Die tanzenden Flammen zauberten seltsame Gestalten auf die rauen Mauersteine. Rotbärtige Teufelsfratzen. Hastig schüttelte Lena den Gedanken ab. Welch ein Unsinn. Was war nur los mit ihr?
Dies war keine Burg mit großem Palas, so wie sie es auf den feinen Buchmalereien gesehen hatte, die ihr Vater einst als kostbaren Schatz gehütet hatte. Das Herz der Festung bildete der viereckige große Wohnturm. Schlicht und finster ragte er in den Himmel, ohne jede Zier. Nur aus zwei Fenstern fiel Licht in den Hof herab. Ringsum gruppierten sich kleinere Nebengebäude aus Fachwerk, deren Zweck Lena in der Dunkelheit nur erahnen konnte. Die Hufe der Pferde und Ochsen klapperten über den gepflasterten Innenhof und verstummten schließlich. Sie waren am Ziel. Lenas Knie knackten wie trockenes Holz, als sie sich von der gepolsterten Bank erhob und aus dem Wagen kletterte, wenigstens waren ihr die Füße nicht wieder eingeschlafen. Als ersten Burgbewohner entdeckte sie einen alten Mann in einer seltsamen Kutte, die Lena keinem Orden zuordnen konnte. Aber sein freundliches, beinahe väterliches Lächeln milderte ihre Beklommenheit.
»Seid willkommen, Schwester. Ich bin Ewald, der Hauskaplan.«
»Ich danke Euch«, antwortete sie. »Doch verzeiht, der Titel Schwester steht mir nicht zu. Ich habe kein Gelübde abgelegt.«
»Nicht?« Er musterte sie erstaunt.
Heißes Blut stieg ihr in die Wangen, dabei gab es gar keinen Grund zu erröten.
Ludovika sprang ihr bei. »Benedicte, Herr Kaplan. Frau Helena zog sich ins Kloster zurück, um den Menschen mit ihrer großen Gabe zu helfen. Doch ihre Bescheidenheit verbietet ihr, viele Worte über sich selbst zu verlieren. Ich bin Schwester Ludovika.«
Selten hatte Lena Ludovika so forsch erlebt.
»Bescheidenheit ist eine Tugend, an der ich nicht rühren will. Ihr seid uns willkommen.« Herr Ewald geleitete sie zum großen Turm. Mit einem Seitenblick sah Lena, wie die beiden Mägde in der Dunkelheit verschwanden.
»Wir sind
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