Die Sündenheilerin (German Edition)
nächsten Tag. Wie herrlich musste es sein, die aufgehende Sonne von hier oben zu begrüßen.
Schwester Ludovikas Stube unterschied sich in nichts von der ihrigen. Entgegen der Aussage des Grafen gab es für die Magd nicht viel zu tun. Sie erneuerte nur die Kerzen und zog frische Laken auf das Bett. Wieder fiel Lena auf, wie selbstverständlich hier mit teuren Wachskerzen umgegangen wurde.
Sie nutzte die Zeit bis zum Nachtmahl, um ihre wenigen Habseligkeiten in der Kleidertruhe zu verstauen. Unwillkürlich flogen ihre Gedanken zurück in jene Zeit, da sie helle Kleider getragen hatte, leuchtende Farben, vorwiegend Grün und Rot. In einer Zeit, als sie ihr Haar noch offen getragen hatte, stolz auf seine Fülle, die einzig vom Schapel gebändigt worden war. Damals hatte sie zahlreiche der kostbaren Haarreifen besessen.
Mit einem energischen Ruck klappte sie die Truhe zu, ganz so, als könne der harte Laut des aufschlagenden Holzes auch die Erinnerungen tilgen.
Zur gegebenen Zeit betraten sie gemeinsam das Prunkgemach. Ludovika gab sich ganz ergeben in der Rolle der frommen Schwester, dennoch entgingen Lena nicht die bewundernden Blicke, mit denen die junge Nonne die geschmückte Tafel bedachte. Ein bodenlanges Tischtuch aus weißem Leinen, darauf drapiert silberne Kerzenleuchter, Pokale und Schenkkannen aus Zinn. Fast fühlte Lena sich zurückversetzt in die Erzählungen, die ihr Vater so gern am abendlichen Kaminfeuer zum Besten gegeben hatte. Geschichten seiner Jugend, da er an fürstlichen Höfen bewirtet worden war.
Der Graf stand vor dem Kamin und starrte in die Flammen. Bei ihrem Eintreten wandte er sich um. Sein Lächeln trieb Lena zum wiederholten Male das Blut in die Wangen.
»Sind wir zu früh?« Sie sah ihn unsicher an.
Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür abermals. Es war der Kaplan, an seiner Seite eine zierliche junge Frau von Anfang zwanzig. Ihre Züge waren rein und nahezu vollkommen, fast wie die der Madonna von Sankt Michaelis. Sie stützte sich auf den Arm des Kaplans, ganz so, als fürchte sie, ohne seinen Beistand keinen Schritt tun zu können. Trotz ihrer Jugend wirkte sie auf Lena wie eine Greisin, und das nicht nur deshalb, weil sie gebeugt ging, als laste die Mühsal eines längst verblühten Lebens auf ihr. Dabei war sie durchaus elegant gekleidet. Ihr Kleid, ein teurer fränkischer Surcot in hellem Grün, schmiegte sich eng um ihren schlanken Leib. Darunter schimmerten die Ärmel ihres Unterkleides weiß wie frischer Rahm hervor. Sie trug kein Gebände, sondern eine hellgrüne Haube, die von einem goldenen Netz überzogen und mit Goldborten verziert war.
Wie eine gebrochene Frühlingsblume, dachte Lena. Eine seltsame Anteilnahme ergriff Besitz von ihr, Mitleid, in das sich Neugier mischte. Was war dieser schönen Frau geschehen, die doch mit allem so überreich gesegnet schien?
Graf Dietmar trat seiner Frau entgegen, bot ihr sogleich seine Hand. Sie ließ den Arm des Kaplans los und ergriff die Rechte ihres Gatten. Wie eine Braut, die vom Vater in die Obhut des Bräutigams gegeben wird, schoss es Lena durch den Kopf. Doch die Art, wie Elise Dietmars Hand umschloss, war alles andere als zögernd. Ihre Finger verhakten sich fest in den seinen, lebhaft und voller Zuneigung. Für einen Augenblick erschien der Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht, das ihr Gatte umso herzlicher erwiderte. Dann führte er Elise an die Tafel, wo sie ihren Platz an seiner Seite einnahm. Doch sie sprach kein Wort, schien Lena und Ludovika kaum wahrzunehmen, nicht einmal als Dietmar sie einander vorstellte. Es war, als lebte sie in einer anderen Welt, getrennt durch einen unsichtbaren Vorhang von der Wirklichkeit.
Die Speisenfolge stand dem Tafelschmuck in nichts nach. Zuerst Mandelmus mit Weißbrot, dann folgten gebratene Hühner, in Rosinen gesottener Hammel und in Wein eingelegte Feigen. Zum wiederholten Male fragte Lena sich, ob es in diesem Haus wohl immer so zuging oder nur heute, um ihre Ankunft zu würdigen. Mandeln und Feigen waren teure Delikatessen, die sie selbst nur äußerst selten gegessen hatte.
Ein lautes Klirren riss sie aus ihren Betrachtungen. Sofort flog ihr Blick zur Gräfin, die hilflos zitternd einen Pokal umgestoßen hatte. Ehe der Graf sie halten konnte, war sie zuckend zu Boden gesunken. Die Hände zu Fäusten verkrampft, schienen ihre Beine ein Eigenleben zu führen und richteten ihren Leib in einer merkwürdig verkrümmten Lage auf. Rücklings mit verdrehten Augen
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