Die Sünderinnen (German Edition)
geschlossen. Wahrscheinlich wollte er zu seinem Freund, einem Assistenzarzt aus angeblich gutem Haus. Schöne Gesellschaft. Leider konnte Pielkötter die Flut negativer Gefühle nicht einmal mit seiner Frau Marianne teilen. Marianne verstand ihren Sohn oder versuchte es zumindest. Meist liebte er seine Frau für ihre Toleranz, jedenfalls sofern sie ihn selbst betraf. Er machte sich darin nichts vor, bei seinem Beruf musste sie sogar eine ganze Menge Toleranz aufbringen. In diesem Fall jedoch ging sie eindeutig zu weit. Schwul, der eigene Sohn, dazu der einzige. Warum brach für sie nicht auch eine Welt zusammen? Sicher hatte Marianne es mit ihrer weiblichen Intuition die ganze Zeit über geahnt. Vielleicht hatte sie es sogar gewusst, eingeweiht von ihrem Sohn. Nein, das wollte er sich lieber nicht vorstellen, hintergangen worden zu sein von Frau und Sohn gemeinsam!
Zu allem Übel fragte Pielkötter sich nun, ob er selbst die Schuld an diesem Desaster trug. Hätte er die Stelle in Duisburg nicht annehmen dürfen? Manchmal trauerte er noch immer dem beschaulichen Münster nach. Sie hatten fast am Waldrand gewohnt, dennoch nur eine Viertelstunde mit dem Fahrrad vom Prinzipalmarkt in der Innenstadt entfernt. Allerdings musste er zugeben, dass er den besonderen Reiz Duisburgs gewaltig unterschätzt hatte.
Bevor er die Industriestadt zum ersten Mal besucht hatte, hatte er sich hässliche, rauchende Schlote vorgestellt, umgeben von heruntergekommenen Zechensiedlungen. Wie originell hatte man dagegen die alten Bergmannshäuser restauriert. Hinzu kam der neue Duisburger Innenhafen. Etliche der ehemaligen Lagerhäuser hatten sich in echte Schmuckstücke verwandelt. Neue Büros und Firmensitze, aber auch eine Gastronomiemeile in der Nähe des Yachthafens waren geschaffen worden. Für Pielkötter spiegelten die ansässigen Restaurants allerdings zu wenig die multikulturelle Struktur Duisburgs wider. Angesichts der ruhigen, dennoch zentralen Lage mit schönem Ausblick störte dies aber wohl kaum jemanden. Sofern die Temperaturen es erlaubten, saßen die Gäste der Restaurants und schicken Cocktailbars draußen an kleinen Tischen unweit des Kanals. Noch in diesem Sommer, so hatte sich Pielkötter vorgenommen, wollte er die Chance nutzen, seine Heimat Duisburg endlich von der Wasserseite kennenzulernen.
Und er hatte Marianne etwas mehr Kultur versprochen, auch wenn er selbst Bildern und Skulpturen nicht gerade viel abgewinnen konnte. Immerhin schimpfte sich die Region inzwischen Kulturhauptstadt 2010. Ganz sicher hatte die Kunstszene bei ihm nicht den Ausschlag gegeben, nach Duisburg zu ziehen. Zunächst einmal hatte er einfach nach einer neuen Stelle gesucht, nachdem er sich in Münster mit seinem katholischen Vorgesetzten über eine Kirchenfrage gestritten hatte und seine Karrierechancen auf null gesunken waren. Aber er hätte auch nach Essen gehen können.
Wahrscheinlich hatte die grüne Natur am Duisburger Stadtrand Marianne und ihn entscheidend beeinflusst. Sie hatten ein paar freie Tage in Duisburg verbracht, hatten einige Gewässer der Sechs-Seen-Platte umrundet, waren endlos lange Rheinwiesen entlanggeradelt und hatten sich in dem riesigen Waldstück südlich von Zoo und Universität verlaufen. Besonders begeistert hatte sie ein Ausflug zum Lohheider See. Sie hatten sich auf der Terrasse einer Gaststätte etwas oberhalb des Sees niedergelassen und die traumhafte Aussicht auf das ruhige Wasser genossen. Während im Vordergrund ein einsames Segelboot seine letzten Runden drehte, war tief im Westen die Sonne langsam untergegangen. Bild und Stimmung hatten Pielkötter eher an einen schönen Urlaubsabend erinnert und ihn vergessen lassen, wie kritisch er eine mögliche neue Arbeitsstätte im Ruhrgebiet einst beurteilt hatte.
Als das Rot am Himmel einem dunklen Violett gewichen war, hatten sie die A 42 genommen, den sogenannten Emscherschnellweg, um zurückzufahren. Links an der riesigen Anlage von Thyssen vorbei, rechts vor ihnen die bunt beleuchteten Hochöfen im Landschaftspark Duisburg Nord. Die Silhouette der riesigen Industrieanlagen hatte Pielkötter fasziniert. Vielleicht war es genau dieser hautnah erlebte krasse Gegensatz, der die Entscheidung für einen Umzug ins einst verschmähte Ruhrgebiet letztlich herbeigeführt hatte. Inzwischen mochte Pielkötter sogar den »reinen Pulsschlag aus Stahl«, den Herbert Grönemeyer zwar für Bochum besungen hatte, der aber, wie er fand, nicht weniger für Duisburg galt.
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