Die Suessen Kleinen
und einige weitere Rufe, ehe sie die Situation erfasste. Schwerfällig, um nicht zu sagen: widerwillig, erhob sie sich, schlaftrunken torkelnd kam sie nach einer Weile zurück. Aber sie sagte nichts und streckte sich wieder hin wie jemand, der aus dem Halbschlaf wieder in den ganzen zu verfallen plant.
»Mach dich darauf gefasst, Liebling«, raunte ich ihr zu, »dass unser Sohn dich noch öfter rufen wird.«
Und so geschah es.
In den folgenden Wochen durfte ich mich nach langer, langer Zeit wieder eines völlig ungestörten Schlummers erfreuen. Unser kleines, süßes, blauäugiges Wunder hatte unter meiner Führung den richtigen Weg gefunden und hatte die Bedeutung der Mutterschaft vollauf begriffen. Die Lage normalisierte sich. Mutter bleibt Mutter, so will es die Natur. Und wenn ihr Kind nach ihr ruft, dann muss sie dem Ruf folgen. In einer besonders gesegneten Nacht stellte sie mit zweiundvierzig Ruf-Folgeleistungen einen imposanten Rekord auf.
»Ich bin von Herzen froh, dass Amir zu dir zurückgefunden hat«, sagte ich eines Morgens beim Frühstück, als sie endlich so weit war, die Augen halb offen zu halten. »Findest du nicht auch, dass die Mutter-Kind-Beziehung das einzig Natürliche ist?«
Leider nahm die einzig natürliche Situation ein jähes Ende. Es mochte vier Uhr früh sein, als ich mich unsanft wachgerüttelt fühlte.
»Ephraim«, flötete die beste Ehefrau von allen, »dein Sohn ruft dich.«
Ich wollte es zuerst nicht glauben. Aber da klang es aufs Neue durch die Nacht: »Papi! Papi!«
Und dabei blieb es. Amir hatte wieder zu mir herübergewechselt.
Rote Haare sind Ansichtssache
Die wahre Sachlage ist mit der Bezeichnung »rot« nur unzulänglich charakterisiert. Amir ist nicht eigentlich rot – er ist purpurhaarig. Als wäre auf seinem Schädel ein Feuer ausgebrochen. Man findet dieses Rot gelegentlich auf den Bildern des frühen Chagall, dort, wo die fliegenden Hähne den Kamm haben. Mir persönlich macht das nichts aus. Das Phänomen der Rothaarigkeit hat, finde ich, auch seine guten Seiten. Wenn Amir uns beispielsweise in einem Gedränge abhandenkommt, können wir ihn binnen kurzem dank seiner Haarfarbe orten, selbst in der größten Menschenmenge. Schlimmstenfalls wird er also kein Stierkämpfer werden. Na wennschon! Ist das ein Gesprächsthema?
Ich muss zugeben, dass auf dem ganzen, weit verzweigten Stammbaum meiner Familie kein einziger Rotkopf hockt, nicht einmal irgendein entfernter Urgroßonkel. Wieso gerade mein Sohn? Aber schließlich waren einige der bedeutendsten Männer der Weltgeschichte rothaarig, zum Beispiel fällt mir jetzt kein Name ein. Churchill, heißt es, kam sogar mit einer Glatze zur Welt.
»In meinen Augen«, pflegt die beste Ehefrau von allen zu sagen, »ist Amir das schönste Kind im ganzen Land.«
Amir selbst scheint der gleichen Ansicht zu sein. Noch bevor er richtig gehen konnte, nahm er jede Gelegenheit wahr, sich in einem Spiegel anzuschauen und verzückt auszurufen: »Ich bin lothaalig, ich bin lothaalig!«
Er fühlte sich von Herzen froh und glücklich. Wir, seine erfahrenen Eltern, wussten freilich nur allzu gut, was ihm bevorstand. Schon im Kindergarten würde das kleine, grausame Pack ihn wegen seiner Haarfarbe necken und hänseln. Armer Rotkopf, wie wirst du das Leben ertragen.
Unsere Sorgen bewahrheiteten sich. Amir besuchte erst seit wenigen Wochen den Kindergarten, als er eines Tages traurig und niedergeschlagen nach Hause kam. Auf unsere Frage, ob ihm jemand etwas Böses getan hätte, begann er zu schluchzen.
»Ein Neuer … heute … er sagt … rot … rote Haare …«
»Er sagt, dass du rote Haare hast?«
»Nein … er sagt … seine Haare sind röter.«
Ein Kind, vor allem ein schluchzendes Kind, kann sich nicht immer verständlich ausdrücken. Deshalb riefen wir den Leiter des Kindergartens an. Er bestätigte, dass ein neu hinzugekommener Junge ebenfalls rothaarig sei und dass unser empfindsamer Sohn offenbar unter dem Verlust seiner Monopolstellung litt.
Amir hatte mittlerweile die ganze Geschichte vergessen und ging in den Garten, um sich vor der Katze zu fürchten.
»Jetzt ist er noch im seelischen Gleichgewicht«, erklärte mir seine Mutter. »Er hält rote Haare für schön. Aber wie wird’s in der Schule weitergehen?«
Sie gestand mir, dass sie in ihren Träumen von einer Schreckensvision heimgesucht würde: Amirlein rennt auf seinen kleinen Beinchen eine Straße entlang, verfolgt von einer brüllenden Kohorte (meine Frau
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