Die Suessen Kleinen
viele Menschen, die niemals geheiratet und sich niemals vermehrt haben und trotzdem glücklich sind. Noch ein Ton aus der hebräischen Flöte und ich werde verrückt.
Aber da geschieht etwas Merkwürdiges. Mit einem Mal nehmen die Dinge Gestalt an, die Atmosphäre wird reizvoll, undefinierbare Spannung liegt in der Luft, man muss unwillkürlich Haltung annehmen, man muss scharf aufpassen. Oben auf der Bühne hat sich ein wunderhübscher Knabe aus der Schar seiner Mitspieler gelöst. Vermutlich mein Sohn. Ja, er ist es. Er verkörpert den Dichter Scholem Alejchem oder den Erfinder der Elektrizität oder sonst jemand Wichtigen, das lässt sich so nicht feststellen.
»Häschen klein … Gläschen Wein … bla-bla-bla blubb-blubb-blubb bongo-bongo … das ist fein …«
Laut und deutlich deklamiert mein kleiner Rotkopf den Text. Ich blicke mit bescheidenem Stolz in die Runde. Und was muss ich sehen?
In den Gesichtern der Dasitzenden völlige Teilnahmslosigkeit. Einige schlafen sogar. Sie schlafen, während Amirs zauberhaft klare Stimme den Raum durchdringt. Mag sein, dass er kein schauspielerisches Genie ist, aber seine Aussprache ist einwandfrei und sein Vortrag flüssig. Niemals zuvor ward so Deutliches gehört in Israel. Und sie schlafen …
Als er zu Ende ist, schreckt mein Applaus die Schläfrigen auf. Auch sie applaudieren. Aber ich applaudiere stärker.
Mein Sohn winkt mir zu. »Bist du’s, Papi?«
Ja, ich bin es, mein Sohn. Und ich winke zurück.
Die Lehrerin Nadiwa macht ihrem Vorzugsschüler ein Zeichen.
»Wieso?«, flüstere ich ihr zu. »Geht’s denn noch weiter?«
»Was meinen Sie, ob es noch weitergeht? Jetzt fängt’s ja erst richtig an. Der große historische Bilderbogen: Von der Entstehung der Welt bis zur Entstehung des Staates Israel. Mit Kommentaren und Musik …«
Und da erklingt auch schon der erste Kommentar von der Bühne:
»Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde …«
An den Rest erinnere ich mich nicht mehr.
Gefahren des Wachstums
Renana ist ein liebes Kind. Sie hat etwas an sich … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … etwas Positives. Ja, das ist es. Es lässt sich nicht genauer bestimmen, aber es ist etwas Positives. Andere Kinder stecken alles, was sie erreichen können, in den Mund oder treten darauf und ruinieren es.
Nicht so Renana. Plumpe Gewaltanwendung liegt ihr fern. Wenn ihr etwas in die Hände gerät, wirft sie es einfach vom Balkon hinunter. Immer wenn ich nach Hause komme, also täglich, verbringe ich eine geraume Zeitspanne mit dem Aufklauben der verschiedenen Gegenstände, die das Pflaster unter unserem Balkon bedecken. Manchmal eilen ein paar herzensgute Nachbarn herbei und helfen mir beim Einsammeln der Bücher, Salzfässer, Aschenbecher, Schallplatten, Schuhe, Radiogeräte, Uhren und Schreibmaschinen. Manchmal läuten sie, die Nachbarn, auch an unserer Tür, in den Armen die Abfallprodukte des Hauses Kishon, und fragen: »Warum geben Sie dem Baby diese Sachen zum Spielen?«
Als ob wir die Geber wären. Als ob das Baby sich die Sachen nicht selbst nehmen könnte. Sie ist ein sehr gut entwickeltes Kind, unsere Renana. Die letzte Höhenmessung, die wir an der Tür markierten, belief sich auf 71 Zentimeter. Dass sie mit erhobener Hand ungefähr 95 Zentimeter erreicht, war leicht zu berechnen.
»Ephraim«, sagte die beste Ehefrau von allen, »die Gefahrenzone liegt knapp unter einem Meter.«
Unser Leben verlagerte sich auf eine entsprechend höhere Ebene. In einer blitzschnellen Überraschungsaktion wurden sämtliche Glas- und Porzellangegenstände aus sämtlichen Zimmern auf das Klavier übersiedelt, die unteren Bretter meines Bücherregals wurden evakuiert und die Flüchtlinge in höheren Regionen angesiedelt. Die Kristallschüssel mit dem Obst steht jetzt auf dem Wäscheschrank, die Schuhe haben in den oberen Fächern eine Bleibe gefunden, zwischen den Smokinghemden. Meine Manuskripte, zu sorgfältigen Haufen gestapelt, liegen in der Mitte des Schreibtisches, unerreichbar für Renana und somit ungeeignet zur Verwendung als Balkonliteratur.
Bei aller väterlichen Liebe konnte ich ein hämisches Grinsen nicht gänzlich unterdrücken.
»Nichts mehr da zum Werfi-Werfi-Machen, was, Renana?«
Renana griff zum einzig erfolgverheißenden Gegenmittel: Sie wuchs. Wir wissen von Darwin, dass die Giraffe wachsen musste, um die nahrhaften Blätter in den Baumkronen zu erreichen. So wuchs auch unsere Tochter immer höher, immer höher, bis nur noch ein
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