Die Taeuschung
versprach, wenn der Tag graute, aber sie sehnte sich
danach, als würde er neue Hoffnung bringen.
Die dritte Schublade war an ihrem Platz, und trotzdem
merkte Laura, daß das Gewicht nicht ausreichte. Sie preßte sich
dagegen, aber ihre Kräfte schwanden rapide. Die Kommode
bewegte sich stärker. Einmal konnte sie sogar Christophers
verzerrtes Gesicht erkennen, so groß war der Türspalt schon
geworden.
»Du bist gleich fällig«, quetschte er mühsam zwischen den
Zähnen hervor, »du verdammtes Luder, ich bin gleich bei dir!«
Die Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie war so
erschöpft. Sie war am Ende. Sie würde sterben.
Sie würde Sophie nie wiedersehen.
Als sie das Geräusch von Automotoren durch den Sturm
hindurch hörte, hatte sie bereits aufgegeben, kauerte auf dem
Bett und fand keine Kraft mehr.
Sie sah zuckendes Blaulicht, das sich an die Wände ihres
Zimmers malte.
Die Polizei. Endlich die Polizei.
Sie trafen in letzter Sekunde ein. Wie sich später
herausstellte, hatte Christopher den Schlüssel stecken lassen,
und sie hatten sich ohne Schwierigkeiten die Haustür öffnen
können. Sie kamen, als er fast im Zimmer war. Er hatte noch
weitergekämpft, als sie schon die Treppe hinaufliefen.
Ein Beamter steckte den Kopf ins Zimmer. »Sind Sie in
Ordnung, Madame?«
Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und sie konnte nichts
dagegen machen. Sie lag einfach auf dem Bett und heulte. Als
sie endlich den Mund aufmachen konnte, fragte sie: »Wo ist
Nadine?«
»Sie meinen die Frau, die wir im Garten gefunden haben?
Sie ist bewußtlos, aber sie lebt. Sie wird schon mit dem
Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht.«
Irgendwie arbeitete ihr Kopf so langsam. Alles ging so
schwerfällig voran. Als es ihr nach einer Weile erneut gelang,
den Mund zu öffnen, fragte sie: »Wer hat Sie denn angerufen?«
»Das war eine Madame ... Wie hieß sie noch gleich? Ach ja,
Michaud. Madame Michaud. Cathérine Michaud. Kennen Sie
sie?«
Sie versuchte sich zu erinnern, wer Cathérine Michaud war,
aber nichts in ihrem Kopf funktionierte mehr. Sie hätte nicht
einmal antworten können, wenn er sie nach ihrem eigenen
Namen gefragt hätte. Stimmen und Geräusche traten in den
Hintergrund. Sie hörte noch, wie jemand sagte -wahrscheinlich
war es der freundliche Polizist, der zu ihr ins Zimmer
gekommen war – »Ist der Arzt noch da? Ich glaube, sie klappt
gleich zusammen.«
Dann wurde es dunkel um sie.
Donnerstag, 18. Oktober
1
»Sie dürfen aber nur kurz mit Madame Joly sprechen«, sagte
die Schwester, »es geht ihr noch nicht gut, und die Polizei war
vorhin schon bei ihr. Eigentlich braucht sie viel Ruhe.«
»Ich bleibe nicht lange«, versprach Laura, »aber einen
Moment muß ich mit ihr reden.«
Die Schwester nickte und öffnete die Tür.
Nadine lag allein in dem Zimmer im Krankenhaus von
Toulon. Ihr Gesicht sah abenteuerlich aus, stellte Laura beim
Näherkommen fest. Um das rechte Auge herum war die Haut
in allen Lilatönen verfärbt. Unterhalb der Nase klebte noch ein
wenig blutiger Schorf. Die Oberlippe war dick geschwollen.
Außerdem hatte sie, wie Laura von der Schwester wußte, eine
kräftige Gehirnerschütterung davongetragen.
Nadine wandte vorsichtig den Kopf, wobei sich ihre Miene
sofort schmerzlich verzog.
»Beweg dich nicht«, sagte Laura und trat an das Bett heran.
»Ach, du bist es«, murmelte Nadine.
»Ich komme gerade von der Polizei. Ich habe heute nacht
bereits lange mit Bertin geredet, aber heute morgen hatte er
immer noch ein paar Fragen. Dafür kann ich jetzt endlich nach
Hause fahren. Ich muß sicher zu Christophers Prozeß noch mal
wiederkommen, aber in der Zwischenzeit darf ich heim.«
»Vorhin war ein Polizist bei mir«, sagte Nadine. Das
Sprechen fiel ihr schwer, und ihre Worte klangen ein wenig
undeutlich. Sie zog eine Hand unter der Bettdecke hervor,
berührte ihre geschwollene Lippe und zuckte dabei zusammen.
»Du kannst mich sicher schlecht verstehen. Aber es geht nicht
anders ...«
»Ich verstehe dich schon. Aber du brauchst auch gar nichts
zu sagen. Du hast bestimmt Schmerzen.«
»Ja«, sagte Nadine und sah plötzlich sehr erschöpft aus,
»starke Schmerzen. Im Kopf.« Dennoch schien sie unbedingt
reden zu wollen.
»Der Polizist hat mir erzählt ... Christopher ... Ich kann es
kaum glauben. Er war der beste Freund von ...« Sie sprach den
Satz nicht zu Ende. Aber der ungenannte Name hing plötzlich
zwischen ihnen, schien den ganzen Raum auszufüllen mit
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