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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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genau«, hatte sie geantwortet, »ich war
zuerst wie erstarrt. Es vergingen sicher einige Minuten ... ich
konnte ja kaum fassen, was ich gesehen hatte.«
Niemand hatte sich darüber gewundert, man schien dies für
eine normale Reaktion zu halten. Und zumindest vorläufig
hatte niemand etwas über die Uhrzeit sagen können, zu der
Nadine mißhandelt worden war: Die verletzte Nadine selbst
nicht, und die geschockte und verstörte Deutsche auch nicht.
Der Täter sagte sowieso nichts.
Aber Cathérine wußte, daß zwischen dem Moment, da
Nadine niedergeschlagen worden war, und dem Eintreffen der
Polizei mehr als eine Dreiviertelstunde vergangen war. Eine
knappe Viertelstunde hatten die Beamten von St. Cyr herüber
gebraucht. Irgendwo dazwischen war eine halbe Stunde im
Dunkel der Nacht verlorengegangen.
Und im Dunkel der Erinnerungen.
Denn Cathérine wußte es wirklich nicht mehr.
Den Beamten, der sie vorhin von Toulon wieder nach La
Ciotat zurückgefahren hatte, hatte sie gebeten, sie am
Stadteingang unten am Kai abzusetzen. Ungeachtet des
heftigen Regens hatte sie ein Stück laufen wollen, um
nachzudenken. Herausgefunden hatte sie nichts.
Natürlich hatte sie den Beamten nicht die Wahrheit über
ihren Abend in La Cadiére gesagt. Sie werde bald fortziehen,
hatte sie erklärt, und sie sei an jenem Nachmittag und Abend m
der Gegend herumgefahren, um Abschied zu nehmen.
»Ich saß in La Cadiére im Auto. Ich saß einfach dort und
sagte einem Ort auf Wiedersehen, den ich immer sehr geliebt
habe.«
»Es war stockdunkel«, hatte der Kommissar erstaunt gesagt,
»es regnete, und es war kalt. Und Sie saßen einfach nur im
Auto?« »Ja.«
Er hatte ihr nicht recht geglaubt, das hatte sie spüren können,
aber da es wohl unerheblich war für den Fall, hatte er das
Thema nicht weiterverfolgt.
Sie selbst dachte nun, daß ihr langes Zögern vielleicht auch
mit dem schrecklichen Erlebnis in La Cadiére zu tun gehabt
hatte. La Cadiére war nichts Besonderes gewesen. Es hatte den
Höhepunkt dargestellt in einer lebenslangen Kette von
Demütigungen, die auszuhalten sie hatte lernen müssen. Am
Ende war es eine Art Linderung gewesen für all ihre Wunden,
die Frau, die zu sein sie alles gegeben hätte, unter den
Faustschlägen eines Mannes zusammenbrechen zu sehen. Die
schöne, verwöhnte, begehrenswerte Nadine zu sehen wie sie
wie ein weggeworfener Müllsack im Regen lag. Wie sie
endlich bekam, was sie verdiente Der Makler streckte den Kopf
ins Wohnzimmer. »Die sind ziemlich angetan«, zischte er ihr
zu, »wenn wir noch ein bißchen im Preis nachgeben ...«
»In Ordnung«, sagte Cathérine. Es konnte ihr nur recht sein,
wenn die Angelegenheit schnell über die Bühne ging.
Das Pärchen kam nun auch heran. Selbst in den engen,
verwinkelten Räumen bewegten sie sich nur Hand in Hand!
»Ich glaube, das könnten wir uns ganz kuschelig machen«,
sagte das Mädchen. Ihr strahlender Blick suchte ständig den
ihres Freundes. »Wir haben nämlich ein bißchen Geld geerbt,
wissen Sie. Und das würden wir gern in ein eigenes Nest
stecken.«
Ihrer beider Verliebtheit und ihr Leuchten ließen die
Wohnung heller und freundlicher erscheinen.
Vielleicht war sie nie so häßlich, wie sie mir schien, dachte
Cathérine, vielleicht hingen nur zuviel Einsamkeit und
Schwermut zwischen ihren Wänden.
»Wegen des Preises ...«, fing der junge Mann an.
»Da können wir uns sicher einigen«, sagte Cathérine.
Eines jedenfalls wußte sie: Jetzt, am Tag danach, war sie
erleichtert, weil Nadine überleben würde. Froh, daß sie am
Schluß doch eingegriffen und die Polizei gerufen hatte. Zum
ersten Mal, seit sie sie kannte, dachte sie an Nadine nicht mit
Haß, sondern mit einem Gefühl der Zufriedenheit. Und es war,
als habe sie nach langen Jahren dadurch ein Stück Freiheit
zurückbekommen.
»Wohin werden Sie gehen?« fragte das Mädchen.
Cathérine lächelte. »In die Normandie. In ein bezauberndes
kleines Dorf. Der Pfarrer dort ist ein Freund von mir.« Noch
während sie dies sagte, dachte sie: Wie dumm muß sich das
anhören! Für eine junge, verliebte Frau. Daß ich mich auf den
Pfarrer irgendeines weltabgeschiedenen Dorfes freue!
Aber sie war wirklich sehr nett.
»Wie hübsch«, meinte sie.
»Das finde ich auch«, sagte Cathérine.
3
    Es kostete Laura einige Überwindung, die Tür aufzuschließen
und das Haus zu betreten, in dem vor knapp zwölf Stunden so
viel Schreckliches geschehen war. Der Beamte, der sie

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