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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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war das erste Mal, daß
sie einen kritischen Gedanken ihrem toten Mann gegenüber
zuließ, und das auch noch in Gestalt eines Fluchs. Ich wußte vorhin, daß jemand im Haus ist, hätte ich mich darauf doch
bloß verlassen!
Sie konnte ihr Zimmer von innen verriegeln und hätte sich
damit vor dem Eindringling in Sicherheit bringen können, aber
Bernadette schlief im Nebenzimmer und wie hätte sie sich hier
einschließen sollen ohne ihr Kind? Sie stöhnte bei der
Erkenntnis, daß ein Instinkt, fein wie der eines Wachhunds, sie
geweckt und nach nebenan geführt hatte; sie hätte die Chance
gehabt, sich Bernadette zu schnappen und mit ihr Zuflucht in
diesem Zimmer zu suchen. Sie hatte die Chance vertan. Wenn er bereits diesseits der Glastür war, trennten ihn nur noch
wenige Schritte von ihr.
Wie hypnotisiert starrte sie ihre Zimmertür an. Jetzt konnte
sie, in ihrer eigenen atemlosen Stille, das leise Tappen von
Schritten auf dem Flur hören.
Die Klinke bewegte sich ganz langsam nach unten.
Sie konnte ihre Angst riechen. Sie hatte nie vorher gewußt,
daß Angst so durchdringend roch.
Ihr war jetzt sehr kalt, und sie hatte den Eindruck, nicht mehr
zu atmen.
Als die Tür aufging und der Schatten des großen Mannes in
ihrem Rahmen stand, wußte sie, daß sie sterben würde. Sie
wußte es mit derselben Sicherheit, mit der sie kurz zuvor
gespürt hatte, daß sie nicht allein im Haus war.
Einen Moment lang standen sie einander reglos gegenüber.
War er überrascht, sie mitten im Zimmer stehend anzutreffen,
nicht schlafend im Bett?
Sie war verloren. Sie stürzte zum Fenster. Ihre Finger zerrten
an den Haken der hölzernen Läden. Ihre Nägel splitterten, sie
schrammte sich die Hand auf, sie bemerkte es nicht.
Sie erbrach sich vor Angst über die Fensterbank, als er dicht
hinter ihr war und sie hart an den Haaren packte. Er bog ihren
Kopf so weit zurück, daß sie in seine Augen blicken mußte. Sie
sah vollkommene Kälte. Ihre Kehle lag frei. Der Strick, den er
ihr um den Hals schlang, schürfte ihre Haut auf.
Sie betete für ihr Kind, als sie starb.
Samstag, 6. Oktober 2001
1
    Kurz vor Notre Dame de Beauregard sah er plötzlich einen
Hund auf der Autobahn. Einen kleinen, braunweiß gefleckten
Hund mit rundem Kopf und lustig fliegenden Schlappohren. Er
hatte ihn zuvor nicht bemerkt, hätte nicht sagen können, ob er
vielleicht schon ein Stück weit am Fahrbahnrand entlang
getrabt war, ehe er das selbstmörderische Unternehmen
begann, auf die andere Seite der Rennstrecke zu wechseln.
    O Gott, dachte er, gleich ist er tot.
Die Autos schossen hier dreispurig mit Tempo 130 dahin. Es
gab kaum eine Chance, unversehrt zwischen ihnen hindurch zu
gelangen.
Ich will nicht sehen, wie sie ihn gleich zu Matsch fahren,
dachte er, und die jähe Angst, die in ihm emporschoß, löste
eine Gänsehaut auf seinem Kopf aus.
Ringsum bremsten die Autos. Niemand konnte stehen
bleiben, dafür fuhr jeder mit zu hoher Geschwindigkeit, aber
sie reduzierten ihr Tempo, versuchten, auf andere Spuren
auszuweichen. Einige hupten.
Der Hund lief weiter, mit hoch erhobenem Kopf. Es grenzte
an ein Wunder, oder vielleicht war es sogar ein Wunder, daß er
den Mittelstreifen unbeschadet erreichte.
Gott sei Dank. Er hat es geschafft. Wenigstens so weit.
Der Mann merkte, daß ihm der Schweiß ausgebrochen war,
daß das T-Shirt, das er unter seinem Wollpullover trug, nun an
seinem Körper klebte. Er fühlte sich plötzlich ganz schwach.
Er fuhr an den rechten Fahrbahnrand, brachte den Wagen auf
dem Seitenstreifen zum Stehen. Vor ihm erhob sich – sehr
düster heute, wie ihm schien – der Felsen, auf dem Notre Dame
de Beauregard ihren schmalen, spitzen Kirchturm in den
grauen Himmel bohrte. Warum wurde der Himmel heute nicht
blau? Gerade hatte er die Ausfahrt St. Remy passiert, es war
nicht mehr weit bis zur Mittelmeerküste. Allmählich könnte
der verhangene Oktobertag südlichere Farben annehmen.
Der kleine Hund fiel ihm wieder ein; der Mann verließ das
Auto und blickte prüfend zurück. Er konnte ihn nirgends
entdecken, nicht auf dem Mittelstreifen, aber auch nicht zu
Brei gefahren auf einer der Fahrspuren. Ob es ihm geglückt
war, die Autobahn auch noch in der Gegenrichtung zu
überqueren?
Entweder, dachte er, man hat einen Schutzengel, oder man
hat keinen. Wenn man einen hat, dann ist ein Wunder kein
Wunder, sondern eine logische Konsequenz. Wahrscheinlich
trabt der kleine Hund jetzt fröhlich durch die

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